Ruhe ist wieder eingekehrt, nachdem zehntausende Jugendliche, Schüler:innen und Studierende mit Massenprotesten die Regierung Nepals zu Fall gebracht hatten. Verändert hat sich in dem kleinen Bergland seitdem aber wenig. Wenn es nach den großen Nachbarn China, Indien und dem „dritten Nachbarn“ USA geht, soll das auch so bleiben. – Ein Kommentar von Jan Licht.
Wütend in die Luft gereckte Fäuste, Wasserwerfer, brennende Villen der Bonzen und Politiker:innen – all das ist erst einmal wieder vorbei. Die Proteste der „Gen Z“ in Nepal haben die Regierung um Khadga Prasad Sharma Oli zwar zum Rücktritt gezwungen, aber mehr ist kaum passiert. Wahlen sind für März 2026 angesetzt. Bis dahin wird nun fleißig mobilisiert werden, von genau den Kräften, gegen welche die Proteste ausgebrochen sind.
Die „großen drei Parteien“ der nepalesischen Politik, repräsentiert durch drei ehemalige Ministerpräsidenten, K. P. Oli und seine CPN (UML), Prachandra und seine CPN (M) und Sher Bahadur Deuba und sein Kongress, sind nicht wirklich gestürzt worden. Sie sind nur auf einem temporären Rückzug, nachdem die Gen Z ihre Büros, das Parlament und die Häuser der drei Politiker angezündet hatte. Für die Zwischenzeit hat die Armee die operative Macht übernommen. Und die ehemalige Oberste Richterin Sushila Karki ist zur ersten Ministerpräsidentin überhaupt erklärt worden.
Nepal: Klassenkampf in den Trümmern einer abgebrochenen Revolution
Neue Ministerpräsidentin Sushila Karki
Karki gilt als Kämpferin gegen Korruption, die das kleine Bergland stark prägt. Die 73-Jährige war eigentlich im Ruhestand und genießt Sympathien bei den Protestierenden. In den Foren des Online-Chats Discord, aus denen der Protest erwuchs, wurde sie bereits vor ihrer Ernennung per Umfrage zur Ministerpräsidentin gekürt.
Karki hatte sich in ihrer Zeit 2017 mit der Regierung, damals bestehend aus Prachandras CPN (M) und Deubas Kongress sowie kleineren Parteien, angelegt. Es ging um die Ernennung von Jaya Bahadur Chand zum obersten Polizeiinspektor. Dieser soll eigentlich Verstöße der Polizei gegen die eigenen Prinzipien untersuchen – eine Position, die also etwa Korruption bekämpfen soll. Die Regierung übte Druck aus und Karki, die als Oberste Richterin Widerspruch gegen die Person Chands eingelegt hatte, sollte abgesetzt werden. Abgesetzt wurde sie dann zwar nicht, dennoch ging sie nach der Affäre in den Ruhestand. Bis jetzt eben.
Ein gewisser Affront gegen die „großen Drei“ – die führenden Männer und Parteien der nepalesischen Politik. Karki steht allerdings vermutlich nur für einen anderen Politikstil, nicht für einen Systemwechsel. Wenn sie von den Gen Z-Protestierenden als „ihren Jungs und Mädchen“ spricht oder verletzte Demonstrant:innen in Krankenhäusern besucht, kommt das bei den Jugendlichen natürlich gut an. Substanziell geändert hat sich mit Karki bisher jedoch nichts. Die Wahlen hat sie für März 2026 angesetzt, danach will sie abtreten.
Genug Zeit für die alte politische Elite, sich um den Machterhalt zu kümmern: K. P. Oli und die CPN (UML) haben schon die Muskeln spielen lassen und nach Olis Rücktritt (sowie Angriffen auf sein Büro und Haus, sowie seiner Flucht vor den Protesten per Helikopter) nun die Wiedereinsetzung des Parlaments gefordert, in dem eben jene CPN (UML) die Mehrheit hat. Dieses war von Karki aufgelöst worden. Auch Prachandras CPN (M) bereitet sich auf die Wahl vor. Nur Deuba, vom Kongress, hält sich, nachdem sein Haus von Demonstrant:innen attackiert wurde, noch versteckt.
„Wir sind die Kinder einer kaputten Revolution“
Seltsam ist die momentane Ruhe dennoch, denn die Gewalt und die markigen Sprüche auf Discord richteten sich nicht nur gegen die aktuelle Regierung, sondern gegen das gesamte System Nepals, seitdem im Jahr 2006 die Republik die Monarchie ersetzte. Viele der Protestierenden sehen Nepal auf dem Weg zu einem wirklich anderen System stecken geblieben. Auf einem Schild bei den Protesten stand „Wir sind die Kinder einer kaputten Revolution“.
Gemeint ist der Umbruch im Jahr 2006, der mit Versprechungen wie Landneuverteilungen, dem Brechen mit patriarchaler Gewalt und dem Kastensystem einherging. Geblieben sind die Anführer des Umbruchs, wie etwa Prachandra und seine CPN (M), die aber nun selbst im Sattel sitzen und nach Ansicht der Jugend, welche die Proteste im September anführte, nun genau so korrupt sind wie die Monarchie zuvor.
Tatsächlich sind die „großen Drei“ der nepalesischen Politik stark vom Ausland abhängig, ebenso wie ganz Nepal. Immerhin fliehen immer mehr Nepales:innen als Arbeitsmigrant:innen vor der bitteren Armut und überweisen Geld in die Heimat. Indien und China, die Nepal als Pufferzone brauchen, wie auch die USA werden keine revolutionäre Regierung, die mit den Abhängigkeiten brechen würde, dulden. Vielmehr setzen sie auf ihre politischen Handpuppen. Indien hat beispielsweise gute Kontakte zum Kongress. Die CPN (UML) hält es mit China.
„Ich brauche ein Maschinengewehr“
Der Protest kann währenddessen jederzeit wieder ausbrechen. Bestes Beispiel war der Umbruch im September selbst. Organisiert über Discord-Chatgruppen, wuchsen die Aufrufe gegen die Internet-Zensur durch die Gewalt der Polizei, die auf Protestierende schoss, schnell zu Forderungen nach Angriffen auf die Regierungselite und deren Kinder: Der Bau von Molotow-Cocktails wurde diskutiert, die Adressen von Politiker:innen wurden geteilt und „Wie man protestiert“-Guides erstellt – alles online, anonym über VPN verschlüsselt und vorbei an den eigentlichen politischen Vehikeln in Nepal wie den Parteien, Massenorganisationen und Gewerkschaften.
Einige – insbesondere die gerade gestürzte, eher chinafreundliche CPN (UML) – wittern hinter den Massenprotesten einen angeblich westlichen Einfluss. Doch selbst, wenn es so einfach wäre, dass die Proteste durch „den Westen“ erzeugt wurden, müsste dieser Einfluss ja auch auf einen fruchtbaren Boden treffen. Und dieser war und ist durch Nepals eigenen sozialen Widersprüche mindestens vorbereitet.
Kurz nach den Protesten sieht man diese Ungleichheit noch einmal ganz deutlich: Bei den jüngsten Regenfällen und Erdrutschen sind erneut bis zu 44 Menschen gestorben, während die reiche Elite vor diesen Katastrophen geschützt bleibt. Gerade dieses Bild – vor Fluten fliehende Menschen im Kontrast zu reichen Politiker:innenkindern, die in Villas im Luxus schwelgen – war einer der Auslöser für den Hass und die Gewalt gegen die Politik-Elite.
Hunderte TikTok-Videos skandalisierten die Ungleichheit und Korruption. Und auf Discord schrieben Nutzer:innen: „Ich brauche ein Maschinengewehr“ oder „Lasst uns alle Politiker töten“ in Reaktion auf die Gewalt der Polizei, die bis zu 74 Protestierende erschossen hatte.
Bis zu den Wahlen sind es jetzt nur noch 5 Monate. Ob die Wut bis dahin noch einmal ausbrechen wird oder sich die alte Politikelite den Weg zur Macht zurück erschleicht, kann die Jugend Nepals entscheiden. Dafür braucht sie jedoch eine weiterführende Strategie und ein organisierteres Vorgehen als nur spontan über Discord, um dem Militär ebenbürtig zu sein und eigene Leute für die Regierung der Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen stellen zu können.
Es braucht neue Organisationen und eine langfristige politische Perspektive, die mit den Abhängigkeiten zum Ausland bricht, Nepal aus sich heraus entwickelt, aus der Armut hebt und es zu mehr macht als zu einem bloßen Pool für Arbeitskräfte. Prachandra und die CPN (M) haben diese Perspektive einst selbst formuliert, bis sie ihre Politik zugunsten von Posten und Geld inhaltlich aufgaben und nur noch als Phrase im Mund führen. In Nepal wie in Indonesien bis nach Deutschland muss dieser soziale Kampf von neuen Kräften aufgenommen und in den Kampf für einen echten Sozialismus umgewandelt werden.
Kämpfen wie die Jugend in Nepal, Indonesien und Deutschland?

