Eine der Fluchtrouten nach Europa führt durch den Białowieża-Urwald an der polnisch-belarussischen Grenze. Wie an vielen anderen Fluchtrouten leisten hier Freiwillige humanitäre Hilfe. Doch auch diese wird immer weiter angegriffen und kriminalisiert. Der Aktivist Ralf B.* berichtet von seinen Erfahrungen als Helfer vor Ort.
Was beinhaltet eure Arbeit vor Ort, was macht ihr genau?
Einiges tatsächlich: Flüchtende aufsuchen und sie mit Nahrung, Wasser und Kleidung versorgen, Erste Hilfe leisten und sie über ihre Rechte aufklären. Wir helfen auch, Asyl zu beantragen, wenn das gewollt ist. Das alles machen wir auf der polnischen Seite an der Grenze zu Belarus, am Białowieża-Urwald.
An der Grenze gibt es einen großen Grenzzaun, der auch durch den Urwald verläuft. Es ist der letzten Urwald Europas, im Mai kann es da auch manchmal noch schneien.

Viele Menschen irren tagelang durch die dichten, endlos erscheinenden und sehr feuchten Wälder. Ein großer Teil ist geschwächt, verwundet, unterkühlt, und es ertrinken auch Menschen auf der Flucht. Denn nur dort, wo Flüsse sind, ist kein Zaun.
Ein großes Problem ist, dass viele Menschen auf der Flucht tagelang nasse bzw. feuchte Füße haben. Das kann sehr ernste medizinische Risiken mit sich bringen, zum Beispiel einen sogenannten „Trench Fuß“ oder auch „Schützengrabenfuß“ verursachen. Zudem haben viele der Fliehenden Wunden – verursacht durch belarussische oder polnische Polizist:innen, Soldat:innen oder deren Wachhunde. Oder sie haben sich beim Überqueren der mit Nato-Draht versehenen Grenze verletzt.
Wir leisten dann konkret die niedrigschwellige Hilfe, welche die EU nicht leistet – und auch nicht leisten will. Auch andere „offizielle“ NGO oder medizinische Hilfen haben sich zurückgezogen. Das besondere an der Arbeit ist, dass es eine humanitäre Hilfe ist, welche im Verdeckten geleistet werden muss. Wir müssen zum einen gut aufpassen, bei der Hilfeleistung nicht erwischt zu werden, weil unsere Arbeit kriminalisiert wird. Gleichzeitig müssen wir aber auch aufpassen, dass wir die Repressionsorgane nicht zu den Fliehenden bringen und ihren Standort preisgeben.

Also lasst ihr die Leute nach geleisteter Hilfe zurück? Wie fühlt sich das an?
Ja, sozusagen. Wir dürfen niemanden mitnehmen. Unsere Aufgaben beschränken sich auf humanitäre Hilfe. Du weißt danach nicht, was mit den Menschen passiert. Ob sie es schaffen Asyl zu beantragen, ob sie es überhaupt aus dem Wald heraus schaffen, bevor die Grenzbeamt:innen oder das Militär sie finden und zurück nach Belarus bringen, oder ob sie im Wald erfrieren. Wir können nur das Mindeste tun. Das liegt daran, dass unsere Arbeit kriminalisiert wird und mit Schlepperei gleichgesetzt wird. Das ist ernüchternd und frustrierend.
Die psychische und physische Last der humanitären Hilfe in der Grenzregion kann sehr hoch sein. Daher wird versucht, die Erlebnisse kollektiv aufzuarbeiten. Es gibt Unterstützung durch professionelle rechtliche und psychologische Hilfestrukturen und interne Vorgaben zur Belastungssteuerung.
Gibt es einen Einsatz oder Menschen, die dir besonders im Kopf geblieben sind?
Neben den Einsätzen an sich ist die Zeit, die man mit den Aktivist:innen im Alltag, in Bereitschaft, vor Ort verbringt, sehr wertvoll. Auf ein kollektives und solidarisches Miteinander und ein ökologisches Agieren wird hier großer Wert gelegt.
Zu den Einsätzen: Jeder Einsatz für sich ist anders. Herausfordernd sind sie rein von der Umwelt her vor allem bei Dunkelheit: Im Urwald und in dieser ländlichen Region ist es wirklich stockfinster. Besonders rührend sind teilweise die Begegnungen mit den fliehenden Menschen, die teilweise zum ersten Mal positiven Kontakt zu Menschen in Europa haben.
So versuchen wir, neben der Notfallhilfe auch einfach als Menschen da zu sein – so kommt es vor, dass man innerhalb sehr kurzer Zeit und häufig trotz Sprachbarrieren eine kurzes, aber sehr intensives Miteinander erlebt.

Die Fluchtroute über die polnisch-belarussische Grenze ist eine vergleichsweise nördliche und somit ja auch längere Fluchtroute. Warum nehmen Menschen diese Route?
Es ist die am wenigsten tödliche, aber gegebenenfalls teuerste Fluchtroute in die EU. Es gibt teilweise die Möglichkeit, recht günstig nach Belarus zu fliegen und von dort aus weiter in Richtung EU zu gelangen. Aber das ist trotzdem teurer als viele andere Routen. Belarus ermöglicht zwar die Einreise – das machen sie allerdings nicht aus humanitären Gesichtspunkten.
Aus Belarus ist aufgrund der äußerst repressiven Lage vor Ort wenig öffentlich bekannt. Die Geflüchteten erzählen aber von extremer Gewalt und erniedrigendem Umgang durch staatliche und nicht-staatliche Akteure in Belarus. Die Hauptherkunftsländer sind Syrien und Somalia.
Anfang des Jahres wurde das Asylrecht in Polen verschärft. Was bedeutet das für eure Arbeit an der Grenze? Hat sich dadurch etwas verändert?
Es wurde nicht nur verschärft sondern faktisch abgeschafft. Mit Hilfe einer (immer wieder verlängerbaren) Notstandsregelung, haben Menschen, die über die polnisch-belarussische Grenze gekommen sind, gar keine Möglichkeit mehr, einen legalen Status in Polen zu erreichen.
Letztlich war aber das Risiko von Pushbacks seit Beginn der humanitären Krise 2021 immer enorm hoch – aktuell nach eigener Einschätzung fast bei 100 Prozent. Zu Beginn der Arbeit an der Grenze konnten die Aktivist:innen auch keine Unterstützung im Asylverfahren bieten – so ist es jetzt wieder.
Ein großes Problem ist allerdings, dass die geflüchtetenfeindliche und inhumane staatliche Praxis unter der ehemaligen rechten Regierung der PiS-Partei von vielen Seiten kritisiert wurde. Heute findet sie auf Anordnung der neoliberal-konservativen regierenden KO-Partei statt und wird mit dem Narrativ der „Rechtsstaatlichkeit“ legitimiert.
Hinzu kommt, dass die Grenze stets weiter militarisiert wird – wir müssen die ganze Situation auch im Kontext sich immer zuspitzender militärischer Spannungen zwischen Polen als Teil der EU und Belarus‘ Bündnis mit Russland betrachten. Während Belarus einerseits Flüchtenden eine Route ermöglicht, dies aber auf menschenverachtende und extrem gewaltvolle Art macht, herrscht in Polen das Narrativ, dass die Menschen auf der Flucht keine Menschen, sondern „Patronen Putins“ sind.
Die EU bedient sich übrigens an einem ähnlichen Narrativ. Im Dezember 2024 verabschiedete die EU-Kommission eine Erklärung, dass Mitgliedstaaten das Asylrecht einschränken dürfen, um sich gegen hybride Kriegsführung mit Russland zu schützen, bei der Flüchtende als „Waffe“ gegen die EU verwendet werden.
So müssen sie sich eigene Wege und Strukturen schaffen, um in dieser gewaltvollen und durch und durch rassistischen Situation zurechtzukommen.
In den deutschen Medien sieht man immer öfter, dass die Polizei an der deutsch-polnischen Grenze überlastet ist. Warum ist das so? Was bedeutet das für die Geflüchtetenhilfe?
Die EU-Außengrenze verschiebt sich durch die de-facto-Abschaffung des Asylrechts in Polen. Somit müssen Flüchtende, um in der EU Asyl zu suchen, durch Polen hindurch und in Deutschland Asyl beantragen. Darauf ist die Polizei nicht vorbereitet, und es werden politische Wege gesucht, auch hier das Asylrecht weiter zu verschärfen.
Aktuell gibt es in Polen eine rassistische Dynamik, und auf polnischer Grenzseite patrouillieren polnische Faschist:innen, um Pushbacks von Deutschland nach Polen zu verhindern oder um dem Mythos, Deutschland importiere Migrant:innen nach Polen, entgegenzuwirken. So gibt es, neben staatlichen Grenzkontrollen auf beiden Seiten der Grenze, racial profiling durch nicht staatliche Akteur:innen.
Kannst du noch mehr zu den Pushbacks erzählen?
Die Podlasie-Region, in welcher der Konflikt stattfindet, ist eine der konservativsten und ärmsten Regionen Polens, und die extreme Rechte hat hier besonders viele Stimmen bei den Wahlen bekommen.
Es gibt organisierte faschistische Gruppen, die teilweise auch mit den in Polen sehr starken Hooligan-Gruppen in Verbindung stehen. Es gab – ähnlich wie in Deutschland – Propagandaaktionen von Faschist:innen, welche die Grenzregionen nach Menschen auf der Flucht und/oder Aktivist:innen absuchen. Es besteht also stets die Gefahr von faschistischer Gewalt. Man muss aber auch sagen, dass ihre Grenzpatrouillen überwiegend Propagandaaktionen waren und im Vergleich zur EU-finanzierten militarisierten Abschottung kaum relevant sind.
Es standen Aktivist:innen vor Gericht, weil sie eine Familie im Auto mitgenommen haben. Was sagt ihr zu der Kriminalisierung eurer Arbeit? Und schüchtern solche Verfahren Leute ein, die humanitäre Hilfe an der Grenze leisten wollen?
Das stimmt, seit Jahren lief ein Verfahren gegen die sogenannten „HaÂjnówka Five“ (H5): Fünf Aktivist:innen wurde vorgeworfen, einer fliehenden und verletzten Familie geholfen zu haben und sie mit dem aus dem Urwald in ein nahegelegen Ort gefahren zu haben. Im polnischen Gesetz wird Fluchthilfe unter Strafe gestellt, wenn man sich daran bereichert. Das unterstellte die Staatsanwaltschaft den Aktivist:innen.
Letztlich wurden sie in einem Prozess, der politisch und öffentlich von den Strukturen der Aktivist:innen begleitet wurde, freigesprochen. Welche konkrete Auswirkung das auf die weitere Arbeit vor Ort hat, kann ich aktuell leider noch nicht einschätzen.
Es gibt noch weitere laufende Verfahren gegen Aktivist:innen. Trotz der teilweise angedrohten mehrjährigen Haftstrafen gab es meines Wissens nach noch kein rechtskräftige Verurteilung von Aktivist:innen wegen humanitärer Hilfe vor Ort.

Dennoch besteht stets die Gefahr bzw. auch die Angst vor der Kriminalisierung. Hinzu kommen regelmäßige Schikanen von Seiten der Repressionsbehörden: Bei Kontrollen werden diese enorm in die Länge gezogen, Aktivist:innen und Fliehenden mit Gewalt gedroht, mit Schusswaffen auf sie gezielt, rassistische Kommentare geäußert und vieles mehr.
Meiner Erfahrung nach wirken sich gesellschaftliche Diskussionen konkret im Auftreten der Repressionsbehörden aus: bei akuten rassistischen, kriegsvorbereitenden und law-and-order-Diskursen in den Massenmedien treten Beamt:innen offen rechter und aggressiver auf.
Wie siehst Du die Perspektive in dem Konflikt?
Aktuell schärft sich die zwischenstaatliche Spannung zwischen Polen/EU und Belarus/Russland zu. So wird die Gegend weiter militarisiert, was für noch mehr Gefahren auf der Fluchtroute sorgt. Parallel findet eine rassistisch-rechte Dynamik in Polen und der gesamten Welt statt.
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Die Flucht wird aber unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen weiter für viele die einzige Möglichkeit, Elend, Krieg und Tod zu entgehen. Menschen werden weiter fliehen – nur eben erschwerter und mit mehr Verletzungen.
Die humanitäre Arbeit vor Ort findet tagtäglich weiter statt und sammelt dabei viele Erfahrungen, wie unter solch schweren Bedingungen eine Arbeit weiter möglich ist.
Daher muss das Streben nach einer Perspektive jenseits von Kapitalismus und Rassismus parallel zu einer humanitären Praxis stattfinden. Sich nur auf das eine zu konzentrieren, ist entweder zu kurz gedacht oder ignoriert die aktuell stattfindende Krise.
Wie können sich unsere Leser:innen weiter zu dem Thema informieren?
Die Aktivist:innen haben eine Dachorganisation, die Grupa Granica, die auch in Sozialen Medien über die Arbeit berichtet. Die Dokumentations- und Statistikorganisation We Are Monitoring arbeitet kontinuierlich zu dem Konflikt und veröffentlicht regelmäßig Zahlen und Hintergründe. Zudem wurde ein „sklep bez granic“ (dt. Geschäft ohne Grenzen) eingerichtet, in dem man Hilfspakete kaufen kann und somit die Arbeit vor Ort finanziell unterstützen kann.
*Name geändert

