Nach dem überstanden Misstrauensvotum kann der französische Premierminister Lecornu immer noch auf keine stabile Mehrheit im Parlament bauen. Das linke Lager ist derweil zerstritten. Die Unzufriedenheit über den fortgesetzten Sozialabbau führt schon seit Jahren immer wieder zu Massenprotesten.
Frankreich kommt nicht zu Ruhe: Nachdem am 6. Oktober der Premierminister Sébastien Lecornu nach nur 27 Tagen im Amt zurückgetreten war, hatte Präsident Emmanuel Macron ihn am folgenden Freitag von neuem als Premierminister benannt. Lecornu überstand dann nur knapp das erste Misstrauensvotum der Opposition, bleibt also vorerst im Amt.
Auch die Amtszeit seines Vorgängers Bayrou war schon vorzeitig beendet worden, nachdem dieser die Vertrauensfrage im Parlament deutlich verloren hatte. Lecornus Rücktritt war schon der vierte in den letzten 2 Jahren.
Der Grund dafür sind die extrem unpopuläre Politik des Präsidenten, sowie die unklaren Mehrheitsverhältnisse in der französischen Nationalversammlung. Macrons Lager, das sich bisher aus Wirtschaftsliberalen und den konservativen Les Républicains (LR) zusammensetzte, verfügt dort aktuell nur über rund ein Drittel der Stimmen. Dass Lecornu überhaupt im Amt bleibt, ist nur dadurch möglich, dass sich die sozialdemokratische Parti Socialiste (PS) kurzfristig dazu entschied, gegen das Misstrauensvotum zu stimmen.
Das rechte Lager
Selbst das liberal-konservative Bündnis bröckelt aber mittlerweile. So kritisierte der ehemalige Innenminister Bruno Retailleau (LR) die geplante Zusammensetzung von Lecornus erstem Kabinett. Er erklärte am Tag nach Lecornus Rücktritt dann das Bündnis mit Macron für aufgelöst. Eine gemeinsame Regierung gebe es vorerst nicht. Zwar benannte Lecornu mehrere Minister aus den Reihen des LR. Da diese damit gegen die Parteilinie verstießen, wurden sie allerdings aus der Partei ausgeschlossen.
Retailleau steht in seiner Partei auf dem rechten Flügel, der sich bemüht, ein Bündnis mit dem ultra-rechten Rassemblement National (RN) zu schmieden. Dieser reagierte zuletzt offen gegenüber der Idee einer gemeinsamen Regierung. Während große Teile der Lokalpolitiker:innen und der Wähler:innenbasis solch ein Bündnis zwischen Rechten und Faschist:innen befürworten, stellt sich die Fraktion in der Nationalversammlung dagegen.
So sagte ihr Co-Vorsitzender Vermorel-Marques am Freitag der Tageszeitung Le Monde: „Zur DNA der Rechten gehören Liberalismus, Haushaltsdisziplin und die Verbundenheit mit dem europäischen Projekt“. Für ihn bedeute dies: Wir können in unseren Überzeugungen standhaft und rechts sein, ohne zu radikal zu sein.
Bündnis mit den Ultra-Rechten?
Ob die konservative Rechte das Bündnis mit dem RN schließen wird, hängt also davon ab, welches Lager die internen Flügelkämpfe für sich entscheiden kann. Eine Mehrheit hätten sie in der Nationalversammlung freilich nicht. Das bisherige Bündnis mit Macron dürfte im übrigen wohl weniger an dessen „gemäßigter“ Haltung liegen.
Macron, der sich in Europa gerne als progressiv inszeniert, bedient sich im Inneren schon länger rechter Rhetorik. So forderte er etwa 2022 „Frankreich muss französisch bleiben“ – eine Parole der extremen Rechten. Einem Bündnis von Macrons Ensemble! mit dem RN, das im Parlament über eine komfortable Mehrheit verfügen würde, steht vielmehr die unterschiedliche Haltung zur EU im Weg: dem pro-europäischen rechten Macron steht die rechte „Souveränistin“ Marine Le Pen gegenüber.
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Sozialdemokraten stützen die Regierung
Bereits Lecornus Vorgänger hatte sich darum bemüht, die sozialdemokratische PS durch Zugeständnisse für sich zu gewinnen. Die sogenannte „Konklave“ war allerdings im Juni gescheitert.
Die Parti Socialiste (PS) scheint nun allerdings doch dazu bereit, die Politik des Premierministers mitzutragen. Dieser hatte zuvor zugesagt, die umstrittene Rentenreform bis 2028 einzufrieren. Dies bedeutet praktisch, dass in dieser Zeit das Rentenalter nicht länger auf 64 Jahre angehoben wird, wie es ursprünglich vorgesehen war. Die bisherige Erhöhung auf 62 Jahre und 9 Monate bleibt aber in Kraft.
Die Integration eines Teils der Linken in das Projekt Macron scheint also vorerst geglückt zu sein, auch wenn die Einigung auf wackeligen Beinen steht. Die PS betonte, dass sie sich vorbehalte, in Zukunft doch noch für eine Abwahl Lecornus zu stimmen. Linke Forderungen, wie die „Taxe Zucman“ – eine moderate Vermögenssteuer für Superreiche – scheinen allerdings vorerst vom Tisch zu sein.
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Streit in der parlamentarischen Linken
Diese Kompromissbereitschaft der PS wurde von anderen Linken scharf angegriffen. So kritisierte der Vorsitzende der links-sozialdemokratischen Partei La France Insoumise (LFI), Jean-Luc Mélonchon, die Entscheidung auf der Plattform X.
Was sich wohl als Spaltung des linken Lagers verstehen lässt, hatte sich schon vorher abgezeichnet: So hatte Mélonchon vor der zweiten Ernennung Lecornus öffentlich den Rücktritt Macrons und die Auflösung des Parlaments gefordert. Das linke Wahlbündnis Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront) sprach sich demgegenüber dafür aus, einen Premierminister aus ihren Reihen zu benennen.
Hierbei ging es wohl auch darum, wer die Vorherrschaft im linken Lager beanspruchen kann: Während ein linker Kompromiss-Kandidat mit Macrons Lager aus der PS stammen würde, hofft Mélonchon wohl darauf, bei vorgezogenen Präsidentschaftswahlen als Kandidat einer geeinten Linken auftreten zu können.
Sozialabbau und Massenproteste
Ein weiterer Grund für die politische Instabilität ist die Unzufriedenheit mit Macrons Politik. Dieser hatte bei den Präsidentschaftswahlen 2022 im ersten Wahlgang gerade einmal 20 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten bekommen. Die Stichwahl konnte er nur deswegen gewinnen, weil linke Wähler:innen für ihn stimmten, um die Wahl der faschistischen Marine Le Pen zu verhindern.
Macron steht seit seiner ersten Amtszeit für neoliberale Reformen und Kürzungen. Der soziale Kahlschlag stieß von Anfang an auf großen Widerstand in der französischen Bevölkerung, insbesondere von Arbeiter:innen. Bereits 2018 entflammten die Proteste der „Gelbwesten“, ausgelöst durch Macrons Vorhaben, die Kosten der Energiewende auf die Ärmsten abzuwälzen.
Fünf Jahre später führte Macrons Rentenreform, die eine Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 vorsah, zu landesweiten Protesten. Die Gewerkschaften riefen mehrmals zum Generalstreik auf. Im März 2023 gingen 3,5 Millionen Menschen auf die Straße. Die Proteste wurden, wie schon 2018/19, von einem großen Polizeiaufgebot begleitet.
Internationale Beobachter:innen wie Amnesty International kritisieren seit Jahren den massiven Einsatz von Gewalt durch die französische Polizei. Im gleichen Jahr war der 17-jährige Nahel Merzouk in Nanterre durch die französische Polizei erschossen worden. Auch hier waren Massenproteste die Folge. Die Rentenreform wurde schließlich trotz der Massenproteste und ohne Parlamentsmehrheit durch ein Dekret des Präsidenten durchgesetzt.
Im September 2025 machte die Bewegung Bloquons Tout (Lasst uns alles blockieren) dann mit landesweiten Protesten und Streiks auf sich aufmerksam. Unter dem Motto „Stop Budget Bayrou“ richteten sich die Demonstrationen gegen die anhaltende Sparpolitik und Sozialkürzungen der Regierung. Trotz massiver Polizeipräsenz beteiligten sich Hunderttausende an den Aktionen.
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Die Lage in Frankreich bleibt also äußerst fragil. Während Lecornu über keine Mehrheiten verfügt und auf das Wohlwollen der Sozialdemokraten angewiesen ist, steht für ihn der Haushalt 2026 an. Dieser muss mit einer Parlamentsmehrheit beschlossen werden. Da die rechte Regierung sich weigert, die Reichen zur Kasse zu bitten, kommen weitere Sparmaßnahmen auf die arbeitende Bevölkerung zu. Die Gewerkschaften haben bereits für den 6. November zum Generalstreik aufgerufen.

