Israel hat erneut tödliche Luftangriffe auf den Gazastreifen geflogen. Obwohl es den Waffenstillstand noch nicht offiziell aufgekündigt hat bleibt die Zukunft des Deals offen. Die jüngste Eskalation im Genozid weist auch auf interne Zerwürfnisse hin. – Ein Kommentar von Ali Najjar.
Die israelische Armee erklärte am Sonntag, sie habe eine „massive und umfangreiche Welle“ von Angriffen auf dutzende Ziele durchgeführt, nachdem ihre Truppen in Rafah unter Beschuss von Hamas-Kämpfern geraten waren – eine Anschuldigung, die die palästinensische Gruppe zurückwies. Israel hat mindestens 20 Luftangriffe auf den südlichen Gazastreifen geflogen, während der fragile, von den Vereinigten Staaten vermittelte Waffenstillstand formell weiter besteht.
Israelische Sicherheitsbeamte vermeldeten außerdem, dass die Lieferung humanitärer Hilfe in den Gazastreifen nach dem mutmaßlichen Verstoß der Hamas vorübergehend eingestellt worden sei.
Die israelische Armee gab bekannt, dass zwei ihrer Soldaten am Sonntag bei „Kämpfen“ in Gaza ums Leben gekommen seien und sie mit Luftangriffen und Artilleriefeuer reagiert habe, nachdem ihre Truppen von der Hamas angegriffen worden seien. Die Qassam-Brigaden als bewaffneter Arm der Hamas dementierten diese Schilderung jedoch und erklärten, dass sie sich an das Waffenstillstandsabkommen halten.
Im Rahmen des Abkommens kam es bereits zu einem umfassenden Gefangenenaustausch, bei dem alle lebenden israelischen Gefangenen freigelassen wurden – etwa 20 an der Zahl, wie auch knapp unter 2000 palästinensische politische Gefangene und Geiseln.
Angriffe auf Gaza, Westbank und Libanon
Die palästinensische Zivilschutzbehörde gab an, dass bei den israelischen Luftangriffen am Sonntag mindestens 42 Palästinenser:innen im weitestgehend zerstörten Gazastreifen getötet worden seien. Seit Inkrafttreten des Waffenstillstands am 10. Oktober sollen 97 Menschen in Gaza getötet und weitere 230 verletzt worden sein. Die jüngsten Angriffe konzentrierten sich auf die Region rund um die Grenzstadt Rafah im südlichen Gazastreifen.
Auch im Westjordanland kam es zu Angriffen auf Palästinenser:innen. Im besetzten Ost-Jerusalem schoss das israelische Militär einen jungen Palästinenser am Grenzübergang Qalandiya an. Im Osten von Ramallah griff ein bewaffneter Siedler eine Frau an, die Oliven von einem Baum erntete.
Auch im Süden Libanons hat das israelische Militär eine Reihe von Luftangriffen durchgeführt. In den Tagen zuvor war es bereits zu israelischen Verstößen gegen das Waffenstillstandsabkommen mit der Hisbollah gekommen. Die israelische Armee führt nach eigenen Angaben nahezu täglich Operationen auf libanesischem Gebiet durch um zu verhindern, dass die Hisbollah ihre Kräfte wiederherstellen kann.
Nach Angaben der libanesischen Nachrichtenagentur griffen israelische Kampfflugzeuge die Orte Al-Aishiya, Mahmoudiyeh und Jarmak im Bezirk Jezzine an. Zudem wurden israelische Flugzeuge über Beirut und den südlichen Vororten gesichtet, wo sie in niedriger Höhe und mit hoher Intensität flogen. Die Angriffe sind Teil einer anhaltenden Serie täglicher israelischer Luftschläge im Libanon, bei denen es in mehreren Städten im Osten und Süden des Landes bereits Tote und Verletzte gegeben hat.
Israel offen für Wiederaufnahme der Kampfhandlungen
Die israelischen Angriffe erfolgten, nachdem Premierminister Benjamin Netanjahu sich mit Sicherheitschefs beraten und das Militär angewiesen hatte, „entschlossen“ gegen Verstöße gegen den Waffenstillstand vorzugehen.
Israelische Medienberichte deuten darauf hin, dass Israel in Rafah mit dem Ziel vorgeht, bewaffnete kollaborierende Milizen in Gaza zu schützen, die es während des gesamten Krieges unterstützt hatte, da diese seit dem Waffenstillstand mit Vergeltungsmaßnahmen der Hamas rechnen mussten.
Der faschistische israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, erklärte auf X, er wolle, dass die israelische Armee „die Kämpfe im Gazastreifen mit maximaler Gewalt wieder vollständig aufnimmt“. Und Amichai Chikli, israelischer Minister für Diaspora-Angelegenheiten, sagte: „Solange die Hamas existiert, wird es Krieg geben.“
Unterdessen erklärte der Oppositionsführer und ehemaliges Mitglied des israelischen Sicherheitsrates Benny Gantz, dass Israel sich alle Optionen offenhalten sollte, „einschließlich einer Rückkehr zu militärischen Manövern“.
Widersprüche innerhalb Israels
Die aktuellen Angriffe zeigen erneut die Fragilität des Waffenstsillstandsabkommens auf. Schon zu Beginn der entsprechenden Verhandlung haben sich unter der israelischen Führung Widersprüche hinsichtlich der Bewertung des Deals gezeigt. Diese wiederum deuten auf Differenzen über die eigentlichen Kriegsziele in der Regierung hin.
Für Netanjahus faschistische Koalitionspartner – allen voran die Minister Ben Gvir und Smotrich – besteht der Zweck des Krieges darin, Gaza zu annektieren und von jeglicher palästinensischen Präsenz zu säubern durch eine Fortsetzung der Massenmorde, Vertreibung und jüdische Besiedlung . Damit steht diese Bestrebung in einer historischen Kontinuität zur zionistischen Landnahme und Staatsgründung insgesamt und würde eine „Vollendung der Nakba“ in Gaza darstellen.
Analog zu diesen Plänen, die in einem fanatischen Nationalismus und jüdischen Fundamentalismus begründet sind, treibt dieser offen faschistische Flügel der Regierung auch die Kolonisierung des Westjordanlandes voran und strebt hier ebenfalls die Annektion an.
Über den gesamten Kriegsverlauf konnten Ben Gvir, Smotrich und ihr Gefolge das Handeln der Regierung mit ihren Positionen dominieren, was zu den Ausmaßen und der Brutalität des Genozids beigetragen hat. Diese Kräfte haben auch von Anfang an den Waffenstillstand abgelehnt und auf eine Wiederaufnahme der Kampfhandlungen gedrängt – was sich auch in ihren jetzigen Positionierungen zu den neuesten israelischen Angriffen abzeichnet.
Allerdings zeigen sich auf der anderen Seite gewisse Widersprüche zu Netanjahu und seiner Partei Likud auf – nominell die stärkste Kraft in Parlament und Kabinett. In offiziellen Verlautbarungen während der Waffenstillstandsverhandlungen haben israelische Vertreter:innen wie auch Stimmen aus den verbündeten westlich-imperialistischen Staaten das Abkommen begrüßt, allen voran auch die USA, die auf eine Einigung gedrängt hatten und den Rahmen dafür vorgaben.
In dieser Haltung äußert sich ein Bestreben, nach Möglichkeit in Gaza wieder zu einem „Managements des Konflikts“ wie vor dem 7. Oktober überzugehen, also einer Elendsverwaltung, die kurzfristig ein Existenzminimum für die Palästinenser:innen zulässt und durch weniger intensive aber regelmäßige Kriegseinsätze das Aufleben widerständiger Kräfte verhüten will. Für eine solche Strategie sind die kollaborierenden Milizen als lokale Partner essentiell. Dieses Vorgehen würde auch die zionistische Opposition in Israel präferieren.
USA präferieren Elendsverwaltung
Auch für die Ausrichtung der imperialistischen Strategie der USA wäre ein solches Modell von Vorteil, da eine relative Stabilität in Westasien und Absicherung der Existenz Israels als kolonialem Vorposten die Möglichkeit mit sich brächte, sich etwa auf die Konfrontation mit dem mächtigen imperialistischen Rivalen China und den Pazifik zu konzentrieren.
Als von den USA stark abhängiges Land muss Israel sein Handeln ein Stück weit mit den langfristigen US-amerikanischen Interessen abgleichen. Diese Orientierung beißt sich allerdings mit den fanatischen Expansionsbestrebungen des derzeit mächtigen zionistischen Faschismus.
Es bleibt somit unklar, wie die Zukunft des Waffenstillstands aussieht und wie lange er aufrechterhalten werden kann. US-Vizepräsident JD Vance kündigte an, diese Woche nach Israel reisen zu wollen um auf die Einhaltung des Deals zu drängen. Dazu betreiben die USA aktuell den Aufbau einer Militärbasis im Süden Israels – offiziell bezeichnet als „Zivil-Militärischen Koordinationszentrum“ – angeblich, um die Bedingungen des Waffenstillstands zu überwachen. An diesem Stützpunkt ist ebenfalls Personal der Bundeswehr beteiligt.

