Zeitung für Solidarität und Widerstand

Jede Ungerechtigkeit fühlen, jeden Erfolg wahrnehmen

Kriegsberichte, Klimakrise, der Wiederaufstieg des Faschismus, Femizide – überall scheinen schlechte Nachrichten auf uns einzuprasseln. Um inmitten dieser Entwicklungen nicht zu verzweifeln, braucht es einen besonderen Blick für die Erfolge, die wir trotz alledem erzielen können. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.

Die schönste Eigenschaft der Revolutionär:innen ist die Fähigkeit, so hat es der Freiheitskämpfer Ché Guevara einmal gesagt, jede Ungerechtigkeit gegen jeden Menschen an jedem Ort der Welt im Innersten zu fühlen.

Ungerechtigkeiten gibt es auf der Welt sehr viele. Aber fühlen wir sie auch? Für alle von uns gehören schlechte Nachrichten zum Alltag. Armut, Hunger, Klimakatastrophe, Terror und Krieg füllen die Tagesschau und die Feeds unserer sozialen Medien, die Eilmeldungen passen schon längst nicht mehr auf die Displays unserer Smartphones. Um mit der Flut an Augenzeugenberichten, Analysen und Aufrufen fertig zu werden, schalten viele einfach ab.

Ist es nicht so, dass zu Beginn des Einmarschs in die Ukraine 2022 noch Millionen Menschen in Deutschland aufgeregt die Nachrichten verfolgten und der Krieg ganz nah schien? Ist es nicht so, dass während des Anfang des Krieges gegen Gaza im Oktober 2023 die Bombardierung eines palästinensischen Krankenhauses durch israelische Kampfjets uns noch durch Mark und Bein ging?

Heute haben sich viele nicht nur an die Bilder des Rollkragen tragenden ukrainischen Präsidenten Selenskji im Fernsehen, sondern vor allem auch an die täglichen Kriegsmeldungen von der Front in der Ukraine gewöhnt. Andere nehmen die steigenden Opferzahlen des andauernden Genozids in Palästina nur noch zur Kenntnis.

Auch als die gefangene Antifaschist:in Maja im Juni in Budapest im Hungerstreik gegen die unmenschlichen Haftbedingungen, gegen Isolationshaft und gegen den politischen Schauprozess protestierte, riss das nur vergleichsweise wenige Menschen mit. Schaffen wir es inmitten der schlechten Nachrichten nicht mehr, gegen Ungerechtigkeit aktiv zu werden?

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Neuigkeiten über politische Entwicklungen, die uns eigentlich in große Aufruhr bringen müssten, lösen manchmal nicht einmal mehr eine äußere Reaktion aus. Und was das Potential hat, in uns den Drang zu wecken, gegen Ungerechtigkeiten aufzubegehren, macht uns manchmal eher niedergeschlagen. Statt revolutionärem Optimismus sind wir dann überwältigt von Überforderung, Fassungslosigkeit und Abstumpfung.

Umzingelt von Alternativlosigkeit

Wer schon einmal andere für eine Kundgebung oder eine Protestaktion eingeladen hat, kennt das resignierte Abwinken, mit dem viele reagieren. Es bringt doch sowieso nichts, sagen die Niedergeschlagenen, wir haben sowieso keine Chance, etwas zu ändern. Die Entwicklung der revolutionären Bewegung ist nicht unbedingt geeignet, um die Zweifelnden sofort auf den ersten Blick vom Gegenteil zu überzeugen: In Deutschland sind diejenigen, welche die Einheit der Klasse im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung erreichen wollen, selbst zutiefst gespalten, insgesamt stellen die Sozialist:innen bei weitem noch keine große Anziehungskraft dar. Nicht wenige derer, die eigentlich andere vom Kampf gegen die Ungerechtigkeit und für eine bessere Welt überzeugen wollen, lassen sich sogar selbst von der passiven bis niedergeschlagenen Stimmung anstecken anstatt Hoffnung und Optimismus zu verbreiten.

Wenn wir jedoch angesichts von uns umzingelnden schlechten Nachrichten und Rückschlägen verstummen, werden die Stimmen derjenigen, die die Seite des Kapitals stützen, nur umso lauter. Seien es die liberalen Demokrat:innen, die behaupten, dass jeder andere Gesellschaftsentwurf als der Kapitalismus zum Scheitern verurteilt ist oder seien es die Faschist:innen, die mit Hetze gegen Frauen, LGBTI+ Personen und Migrant:innen das ausbeuterische System verteidigen, weil sie die Arbeiter:innen mit ihrem Hass ans Kapital binden wollen – die ganze Bandbreite der bürgerlichen und faschistischen Ideologie ist letztendlich darauf ausgelegt, die Revolutionär:innen, die sich gegen den Kapitalismus richten, zu zermürben.

Das Verbreiten von Hoffnungslosigkeit und das Abstumpfen der Arbeiter:innen angesichts ihrer Ausbeutung und Unterdrückung sind dementsprechend letztlich genau so Teil der Herrschaft des Kapitals wie der Polizeiapparat oder die Klassenjustiz. Den revolutionären Funken in uns müssen wir genau deswegen verteidigen und gegen die Resignation, gegen die Teilnahmslosigkeit, gegen das Abstumpfen ankämpfen.

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Mit jeder Niederlage zum Sieg

Dass es mit revolutionärem Geist selbst in den dunkelsten Stunden möglich ist, Hoffnung zu versprühen, hat uns die revolutionäre Bewegung immer wieder gezeigt. Betrachten wir zum Beispiel Rosa Luxemburgs Ankämpfen gegen die Resignation: Anfang Januar 1919 war in Berlin der Spartakus-Aufstand losgebrochen, bei dem Hunderttausende Arbeiter:innen versuchten, in einem Generalstreik und mit Besetzungen die Macht zu erkämpfen und eine Rätedemokratie aufzubauen.

Die SPD-Regierung, die bereits im Vorjahr die aufstrebende Arbeiter:innenmacht inmitten der Novemberrevolution im Keim erstickt hatte, wollte vor allem eines: den Aufstand niederschlagen und die Ordnung wiederherstellen. Im Zuge dessen verfolgten von der SPD kontrollierte faschistische Freikorps die Gründer:innen der nur wenige Wochen jungen Kommunistischen Partei Deutschlands, zu denen Luxemburg gehörte. Nur einen Tag bevor sie von den Freikorps aufgegriffen, ermordet und in den Berliner Landwehrkanal geworfen wurde, richtete sich die Revolutionärin in ihrem letzten erschienenen Artikel in der Zeitung „Rote Fahne” an die Herrschenden. „Ihr stumpfen Schergen“, schrieb Luxemburg: „Eure „Ordnung“ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon „rasselnd wieder in die Höh‘ richten“ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“

Zu diesem Zeitpunkt war sich die Kommunistin mehr als bewusst, dass der Aufstand vorerst verloren, dass die Reaktion am Zuge ist. Doch den Moment der Niederlage verkannte sie nicht als Ende der Revolution. Obwohl sie wusste, dass sie selber verfolgt und in Lebensgefahr ist, richtete sie ihren Blick und die Blicke von Millionen von Arbeiter:innen nach vorne. In einer Passage ihres letzten Artikels widmete sie sich den unzähligen Niederlagen, die die sozialistische Bewegung neben vielen Erfolgen erlitten hatte – jedoch nicht mit Wehmut oder Resignation, sondern mit Mut und Optimismus.

Der ganze Weg des Sozialismus von den Aufständen der Lyoner Seidenweber über die Pariser Kommune bis zum Aufstand in Berlin 1919 ist gepflastert mit Niederlagen. Und doch, so schreibt Luxemburg, führt auch jede dieser Niederlagen, wenn wir aus ihnen Erkenntnisse schöpfen, Schritt für Schritt unaufhaltsam zum endgültigen Sieg. Was wir daraus lernen können: Sich überhaupt zum Kampf zu erheben und organisiert gegen die Unterdrücker:innen vorzugehen ist bereits ein Erfolg und formt die Kraft und Zielklarheit der nach nachkommenden Revolutionär:innen.

Woher nahm Luxemburg ihren Optimismus? Woher kam ihre Überzeugung? Die Antwort auf diese Fragen liegt in der Weltanschauung, die nicht nur Luxemburg sondern viele kommunistische Revolutionär:innen teilen – dem Blick auf das große Ganze und die Erkenntnis über die Grundgesetze der gesellschaftlichen Entwicklungen. Nicht sich alleine oder ihre Generation sah Luxemburg vor sich, wenn sie von der revolutionären Bewegung sprach, sondern die unbändige Kraft der Ausgebeuteten und Unterdrückten, die sich über Jahrzehnte, ja sogar über Jahrhunderte formt und die in der Lage ist, den Kapitalismus und das Patriarchat in ihrer Gänze zu überwinden. Das einzelne Ereignis und die einzelne Persönlichkeit sind Teil der Geschichte – aber sie verschwinden nicht in der Geschichte, sondern sie sind Teil der sich gesetzmäßig im Kapitalismus entwickelnden Widersprüche und, schließlich, deren Auflösung.

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Machen wir uns dieses Gesetz bewusst, dann finden wir auch inmitten von Rückschlägen und in ausweglos scheinenden Situationen den Weg nach vorn. Die Tapferkeit, mit der Luxemburg auch angesichts ihrer eigenen Verfolgung und der Niederschlagung des Aufstandes weiter an ihren Prinzipien festhielt, mit der sie auch schon in den Jahren zuvor Gefängnisstrafen und Repression begegnet war, ist eine Tapferkeit, die auch wir entwickeln können.

Nämlich genau dann, wenn es uns gelingt, in den vielen auf uns einprasselnden Nachrichten nicht nur eine Reihe von negativen, voneinander losgelösten, niederschmetternden Ereignissen zu sehen. Sondern Ausdrücke einer grundlegenden Entwicklung, die in der Welt passiert – und gegen die es eine grundlegende Lösung gibt.

Die Welt verstehen, um sie zu verändern

Was meinen wir damit, wenn wir immer wieder betonen, dass wir in einer Zeit leben, in der die Widersprüche um uns herum immer größer werden? Das heißt nichts anderes, als dass die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus dazu führen, dass die imperialistischen Länder immer aggressiver ihre Interessen vertreten und für einen großen Krieg um die Neuverteilung der Welt und eine Ausweitung der Einflussgebiete ihrer Konzerne aufrüsten.

Der Krieg in der Ukraine ist deswegen nicht, wie es uns immer wieder weisgemacht werden soll, das Werk eines einzelnen kriegstreiberischen Verrückten, der völlig irrational handelt. Putins Russland, aber auch die NATO und die Ukraine handeln seit Jahren auf eine Art und Weise, wie alle kapitalistischen Länder handeln – sie schützen die Profite ihrer Kapitalist:innenklassen.

Auch der israelische Genozid an den Palästinenser:innen folgt dieser brutalen Logik, denn Israel sichert sich so mehr und mehr eine eigene regionale Vormachtstellung. Präsident Trump ist ebenfalls kein einzelner Verrückter, den das Schicksal ins Weiße Haus gespült hat, sondern eine politische Figur, die im Interesse von Kapitalist:innen handelt und US-amerikanische Konzerne mit seiner Politik gegen den wachsenden Einfluss Chinas verteidigt.

Und auch Frauenmorde sind nicht einfach schwere Schicksalsschläge und Ausdrücke von individuellen Konflikten, wie immer wieder behauptet wird. Sie sind der Gipfel der patriarchalen Gewalt, mit der Frauen in ihrer gesellschaftlichen Rolle als unbezahlte Arbeiterinnen und Stütze des Kapitalismus gehalten werden sollen.

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Erkennen wir die Zusammenhänge dieser Ereignisse, dann lässt sich dagegen auch eine zielgerichtete Anstrengung entwickeln – der Kapitalismus als Ganzes muss überwunden und eine Gesellschaft aufgebaut werden, in der wir Arbeiter:innen uns selbst regieren und nicht für die Interessen der Reichen, sondern die ganze Gesellschaft wirtschaften. In dieser Gesellschaft, im Sozialismus, werden wir die Möglichkeit haben, entscheidend Schritte zur Überwindung des patriarchalen Systems zu machen und darüber hinaus eine neue Kultur der Solidarität zwischen allen Menschen zu schaffen.

Der Kampf lohnt sich

Die Zuversicht, mit der wir für diese neue Gesellschaft kämpfen, prägt unser heutiges Handeln. Jede Ungerechtigkeit tief im Inneren zu spüren, wie es Ché Guevara beschrieben hat, heißt in diesem Sinne nicht, ein Mitleid mit den Unterdrückten zu entwickeln. Sondern zu erkennen, dass in jedem ungerechten Verhältnis, groß oder klein, der Widerspruch zwischen Kapitalist:innen, also unseren Ausbeuter:innen, und uns, den Arbeiter:innen, verkörpert wird.

Verstehen wir das, dann bauen wir eine tiefe Verbindung von unserem eigenen Handeln, an jedem Ort, in jeder Situation, zu den Ungerechtigkeiten dieser Welt auf. Denn sobald wir uns gegen die Kapitalist:innen stellen, sei es bei einer Demonstration gegen Krieg, sei es bei einem Gedenken an einen Femizid, beim Eintreten für die eigenen Rechte in der Schule oder Universität, sei es bei einem Streik, stehen wir gemeinsam auf einer Seite mit allen, die von Kapitalismus und Patriarchat unterdrückt werden.

Das Wissen um die Ungerechtigkeiten auf der Welt ist dann kein lähmendes Wissen mehr, sondern kann uns anspornen, unsere eigenen Kämpfe hier in Deutschland, auch wenn sie zum Teil noch in den Kinderschuhen stecken, mit Entschlossenheit und Energie voranzutreiben.

Nicht einzulenken in die Resignation und sich bewusst gegen die Abstumpfung zu wehren bedeutet dann auch, das eigene Handeln als Teil der revolutionären Geschichte zu verstehen. Ist das nicht anstrengend, fragen dann die Niedergeschlagenen? Ja, müssen wir ihnen antworten, doch sich gegen Ungerechtigkeit zu engagieren und für eine neue Gesellschaft zu kämpfen ist Antrieb genug, bei Überforderung und Stress nicht klein beizugeben.

Die wichtigste Eigenschaft, die wir dazu herausbilden müssen, ist die Fähigkeit, unsere eigenen Erfolge wahrzunehmen. Dazu gilt es, nicht nur in die international am weitesten entwickelten revolutionären Bewegungen zu blicken und diese aus der Ferne zu bewundern. Nein, Erfolge, auch wenn diese heute noch klein und unscheinbar sind, erzielen wir auch selbst.

Jedes Gespräch mit unseren Klassengeschwistern, jedes verteilte Flugblatt, jede gelungene Rede, jede Konfrontation mit dem Klassenfeind, jedes neue Gesicht in den Reihen der klassenkämpferischen Bewegung sind Schritte, die wir alle in die richtige Richtung gehen. Diese Fortschritte nicht nur mühevoll zu organisieren, sondern sie inmitten der zahllosen negativen Meldungen und Rückschläge auch zu erkennen, wird unsere Gewissheit darüber festigen, dass wir unseren Teil dazu beitragen, die Welt zu verändern. Die guten Nachrichten werden wir selbst schreiben.

Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 103 vom Oktober 2025 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

Mohannad Lamees
Mohannad Lamees
Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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