Zurzeit wird in der EU über die Einführung der Chatkontrolle diskutiert. In diesem Jahr wird sie nach der aktuellen Haltung der deutschen Regierung nicht mehr eingeführt. Doch der Trend zeigt klar auf: Massenüberwachung mit KI wird zum Regelfall. – Ein Kommentar von Lukas Mainzer.
In der kommenden Woche sollte im EU-Parlament über die Einführung der sogenannten Chatkontrolle abgestimmt werden. Die finale Entscheidung wäre dann später im EU-Rat getroffen worden. Nach aktuellem Stand soll der Vorschlag beim nächsten Treffen der EU-Innenminister:innen jedoch gar nicht mehr zur Abstimmung gestellt werden.
Mit der Einführung von Chatkontrolle müssten Anbieter wie WhatsApp oder Signal in der EU ihre Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aufgeben und Nachrichten schon vor dem Versenden mit Künstlicher Intelligenz (KI) nach strafbarem Material durchsuchen.
Bisher wehrten sich deutsche Regierungen gegen ähnliche Vorstöße, die schon mehrfach in der EU eingebracht wurden. Bei der geplanten Abstimmung stand nun lange Zeit im Raum, dass die deutsche Haltung kippen könnte und damit auch das Gesetz ermöglicht würde. Innerhalb der deutschen Regierungskoalition unter Kanzler Friedrich Merz (CDU) gibt es zwar eine Tendenz – ein Einvernehmen scheint es aber nicht zu geben.
Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) stellte sich z.B. gegen die Maßnahme: „Solchen Vorschlägen wird Deutschland auf EU-Ebene nicht zustimmen.“ Auch in der Bundespressekonferenz am Mittwoch nannte der Sprecher der Bundesregierung das Thema noch „tabu“. Eine Sprecherin des Bundesinnenministers Alexander Dobrindt (CSU) tätigte jedoch kurz darauf eine gegenteilige Aussage und stellte klar, dass es noch keine Einigung von Seiten der Bundesregierung gäbe.
Chatkontrolle: Justizministerin Hubig spricht sich gegen EU-Gesetz aus
Politik will Bevölkerung mit Kinderschutz ködern
In der Kommunikation nach außen versucht die Bundesregierung weiter den Eindruck zu erwecken, dass es sich bei dem Vorhaben nicht um Chatkontrolle handele, sondern um „Präventionsmaßnahmen im Fall von Kindesmissbrauch“. Doch das erscheint wie eine bekannte Masche: Der deutsche Staat, oder in diesem Fall die EU, nimmt sich ein Thema, das vielen Menschen berechtigterweise besonders am Herzen liegt. Unter dem Vorwand von Kinderschutz sollen dann flächendeckende Maßnahmen zur Überwachung der Bevölkerung mit Hilfe Künstlicher Intelligenz legitimiert werden.
Auch der Deutsche Kinderschutzbund stellte sich bereits gegen das Vorhaben. Mit über 50.000 Einzelmitgliedern ist er der mitgliederstärkste Kinderschutzverband in Deutschland. Der Verband erklärte, dass das Teilen von Kinderpornografie natürlich ein großes Problem sei, das bekämpft werden müsse. Jedoch würden Bilder und Videos von Kindesmissbrauch viel häufiger über File-Hosting-Dienste ausgetauscht als über private Messenger. Daher lehnt der Verband die Maßnahme ab, auch weil sie direkt in die Privatsphäre von Kindern eingreife.
Breites Bündnis gegen Chatkontrolle
Der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen Chatkontrolle in Deutschland ist aktuell verhältnismäßig groß. Eine kurzfristig gestartete Online-Petition hat schon über 330.000 Unterschriften gesammelt. Auch viele IT-Expert:innen, Wissenschaftler:innen und Menschenrechtsorganisationen lehnen das Vorhaben ab und haben sich aktuell und lautstark dagegen geäußert. Das Bündnis gegen Chatkontrolle ruft z.B. dazu auf, Abgeordnete im EU-Parlament zu kontaktieren.
Der Messenger-Dienst Signal kündigte Anfang Oktober an, sich bei der Einführung der Chatkontrolle aus der EU zurückziehen zu wollen. Im Statement von Signal wurde explizit an die deutsche Regierung appelliert. Die Änderung der bisherigen deutschen Ablehnung würde das Gesetz wahrscheinlich ermöglichen.
Der breite Widerstand gegen die Einführung der Chatkontrolle scheint jedocch wohl auch bei der deutschen Bundesregierung angekommen zu sein: aktuell sieht es eher danach aus, als ob Deutschland doch bei der Ablehnung zur Maßnahme bleibt. Dennoch ist das Vorhaben nicht vom Tisch, denn Dänemark, das die EU-Ratspräsidentschaft innehat, könnte zeitnah einen aktualisierten Vorschlag einbringen.
KI-Überwachung in Hamburg: Menschenrechte und Datenschutz adé
Palantir ist auch in Deutschland angekommen
Doch selbst wenn die Einführung von Chatkontrolle vorerst gestoppt wird, nehmen die KI-gestützten Überwachungsmaßnahmen in Deutschland und der EU weiter zu. Das deutsche Innenministerium prüft etwa aktuell, ob die US-amerikanische Datenanalyse-Software Palantir in Zukunft bundesweit eingesetzt werden könnte. In einzelnen Bundesländern wie Hessen oder Baden-Württemberg ist das schon der Fall. Palantir wird den USA etwa durch die Zoll- und Einwanderungsbehörde ICE verwendet, um mit Künstlicher Intelligenz Menschen ohne Aufenthaltstitel zu suchen, dann brutal festzunehmen und abzuschieben.
Palantir wird insbesondere von Geheimdiensten und Militärs verwendet. Dabei kommen auch Chatverläufe von Millionen von Menschen zum Einsatz. Immer wieder wurden in der Vergangenheit bestehende Sicherheitslücken in Messenger-Apps ausgenutzt, um trotz Verschlüsselung auf Nachrichtenverläufe zuzugreifen. Möglicherweise werden also schon heute Chatverläufe in Deutschland überwacht und mit KI durch Geheimdienste und Ermittlungsbehörden verarbeitet – ohne dass ein Parlament dem jemals ausdrücklich zugestimmt hat.
Massenüberwachung für politische Durchsetzung
Doch die innere Aufrüstung in der Überwachungstechnik geht über Chatkontrolle und Palantir hinaus. Es gibt zahlreiche weitere aktuelle Beispiele für die Verwendung von Künstlicher Intelligenz für Massenüberwachung: Die Polizei Hamburg hat z.B. Kamerasysteme mit KI ausgestattet, um Bewegungsmuster zu erkennen. Auch in Berlin soll eine ähnliche Maßnahme im neuen Polizeigesetz eingeführt werden. In Hessen wurde im neuen Polizeigesetz schon im Jahr 2024 mehr KI-Überwachung festgelegt.
Die mögliche Ablehnung des Gesetzes zur Chatkontrolle zeigt, dass vereinter gesellschaftlicher Druck auch Druck auf die Politik ausüben und für ein Umdenken sorgen kann. Der Widerstand muss sich deshalb jetzt auch gegen Palantir und alle weiteren Massenüberwachungen im Namen der „inneren Sicherheit“ richten. Besonders um wenig populäre Maßnahmen wie etwa die angedachte Wehrpflicht durchzusetzen, wird es für den Staat nötig werden, möglichst umfangreiche Kontrolle über seine Bevölkerung auszuüben.

