Wochen haben die sogenannten Gen-Z-Proteste Regierung und Präsident in Madagaskar aus dem Amt und dem Land vertrieben. Teile des Militärs inszenieren sich als Verbündete der Protestierenden, werden aber versuchen ein „Weiter so“ zu organisieren. – Ein Kommentar von Paul Gerber.
Die sogenannten Gen-Z-Proteste auf Madagaskar haben zum vorzeitigen Sturz der Regierung geführt. Der bisherige Präsident des afrikanischen Inselstaates, Andry Rajoelina, wurde Medienberichten zufolge bereits am Sonntag mit einer französischen Militärmaschine außer Landes gebracht und weilt nun Gerüchten zufolge in Dubai. Er selbst begründete diesen Schritt damit, dass er notwendig gewesen sei, um sein Leben zu schützen.
Auch enge politische Verbündete wie der bisherige Premierminister des Landes Christian Ntsay haben sich offenbar nach Mauritius abgesetzt. Seine Regierung war vom Präsidenten in einem offenbar erfolglosen Versuch, die Proteste zu beschwichtigen, aufgelöst worden.
Der scheidende Präsident hat über ein auf seinen Social-Media-Kanälen veröffentlichtes Dekret noch versucht, eine Kammer der madagassische Parlament aufzulösen, vermutlich um einem Amtsenthebungsverfahren zuvor zu kommen. Ob dies jedoch noch irgendeinen Effekt haben wird, ist mehr als Zweifelhaft. Oppositionsparteien im Land haben den Schritt bereits als illegal bezeichnet.
Ironischerweise bestätigt der Ablauf von Rajoelinas Flucht aus dem Land just einen der wichtigsten Gründe dafür, dass er zunehmend den Unmut seiner eigenen Bevölkerung auf sich zog, nämlich seine Politik einer engen Bindung an die ehemalige Kolonialmacht in Madagaskar, Frankreich. Rajoelina besitzt offenbar seit 2014 zusätzlich zur madagassischen auch die französische Staatsbürgerschaft.
Der französische Präsident Macron scheint ihm nicht nur einen militärischen Privatflug in Sicherheit zu finanzieren, sondern äußerte sich auch öffentlich mit mahnenden Worten: Die verfassungsgemäße Ordnung auf Madagaskar müsse gewahrt und der Staat vor „fremden“ Einflüssen geschützt werden.
Militäreinheit übernimmt die Macht
Der politische Tumult begann aber nicht erst mit dem Sturz des Präsidenten, sondern wurde auch schon durch die sogenannten Gen Z-Proteste im Land zum Ausdruck gebracht. Diese waren unter anderem in massiven Mängeln bei der staatlich organisierten Wasser- und Stromversorgung, sowie der tiefen Armut, in der eine Mehrheit der madagassischen Bevölkerung lebt, begründet. Die Tatsache, dass aufstandsartige Proteste also entscheidend für den Sturz des Präsidenten und der Regierung waren, ändert aber auch nichts daran, dass die Macht nun vom Militär übernommen wurde.
Bereits am Sonntag hatte ein Vertreter der Elite-Einheit CAPSAT in einer Rede vor Demonstrierenden bekannt gegeben, seine Einheit werde zukünftig keine Gewalt mehr gegen die Proteste anwenden und nun die Kontrolle über das Militär übernehmen. Auch die Einsetzung eines neuen obersten Befehlshabers wurde bereits verkündet.
Am Dienstag dann erklärte das Militär unter neuer Führung nun ganz offiziell, kurz nachdem das Parlament den Präsidenten Rajoelina per Abstimmung aus dem Amt enthoben hatte, alle Regierungsinstitutionen seien vorübergehend aufgelöst, außer dem Unterhaus des Parlaments. Die Macht übernehme vorübergehend ein Präsidialrat. Der Sprecher von CAPSAT, Michael Randrianirina, betonte auf Nachfrage, dass es „selbstverständlich“ innerhalb von 18 bis 24 Monaten zu demokratischen Wahlen kommen werde. Auch die Gen-Z-Bewegung soll nach seiner Aussage Teil des Übergangsprozesses werden.
Militärputsch oder Revolution?
Rhetorisch kokettieren die Putschisten also teilweise mit der Protestbewegung auf den Straßen. Auch hatten sie schon am Wochenende bei Protesten den Schutz der Demonstranten gegen andere Teil des Militärs übernommen und diese erfolgreich nach einem kurzen Feuergefecht vertrieben.
Dennoch wäre es wohl sehr optimistisch den Vorgang schlicht so zu interpretieren, dass sich ein Teil des Militärs auf die Seite der Bevölkerung gestellt hätte. Putsche und Putschversuche sind vielmehr in Madagaskar derart häufig, dass man sie in gewisser Weise als etablierten Teil des politischen Machtkampfs betrachten muss.
Beispielsweise war ironischerweise der nun abgesetzte Präsident Rajoelina, 2009 ebenfalls in Folge einer Machtübernahme des Militärs an die politischen Schaltstellen des Inselstaates im indischen Ozean gelangt. Auch damals bestand die Ausgangsbasis in aufstandsartigen Protesten gegen Rajoelinas Amtsvorgänger, auch damals kamen zahlreiche Protestierende durch die Polizei- und Militärrepression ums Leben und auch damals spielte die Militäreinheit CAPSAT eine zentrale Rolle bei der Machtübernahme.
Es ist durchaus plausibel, dass ein Teil des Militärs tatsächlich mit den Protesten sympathisiert, schließlich dürften es zum Teil die Kinder oder Geschwister der Soldaten sein, die den aktivsten Teil der Proteste in den letzten Wochen ausgemacht haben. Wesentlich scheint aber zu sein, dass neue, vermeintlich unverbrauchte politische Figuren seit der formellen Unabhängigkeit Madagaskars mit großer Regelmäßigkeit durch das Militär an die Macht gehievt werden, wenn die vorherige Regierung alle Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung verspielt hat. So kam der nun abgesetzte Präsident an die Macht, doch nicht nur er.
Putsche als politische Normalität
Schon Anfang der 1970er-Jahre folgten auf eine große Protestwelle mehrere Putsche bis schließlich mit Didier Ratsiraka ein Militär für fast zwei Jahrzehnte die Macht im Staat übernahm. Dieser bezeichnete zunächst sein Regierungsprogramm als sozialistisch und bemühte sich zwischenzeitlich um eine engere ökonomische Bindung an die Sowjetunion, faktisch jedoch erreichte er nicht mehr als die Verstaatlichung einiger zentraler Unternehmen und eine zeitweilige Lockerung der massiven Abhängigkeit von Frankreich.
Auch dieser Präsident verstand es jedoch sich veränderten politischen Bedingungen anzupassen, um seinen Einfluss zu wahren. So gelang im 1996 nur drei Jahre nach seiner Abwahl ein zwischenzeitliches politisches Comeback, nach seiner knappen erneuten Wahlniederlage im Jahr 2001 floh er aber erst ins französische Exil, nachdem er sich in einem kurzen Bürgerkrieg zwischen Teilen der regulären Armee und von ihm finanzierten Söldnern nicht durchsetzen konnte.
In diesem Sinne ist der aktuelle Putsch also weder Anlass zur Hoffnung für die Bevölkerung von Madagaskar noch ein besonders außergewöhnliches Ereignis. Vielmehr scheint es der vor Ort etablierte Mechanismus der herrschenden Klasse zu sein, um sich Zeit zu verschaffen, neue politische Figuren zu etablieren, ohne jedoch an den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen grundsätzlich etwas zu ändern.
Wie geht es weiter?
Auch die neokoloniale Abhängigkeit von Frankreich und anderen kapitalistischen Großmächten wird so nicht angetastet. In diesem Sinne ist es ganz logisch, dass abgesetzte Präsidenten traditionell ausgerechnet auf dem Gebiet der verhassten ehemaligen Kolonialmacht regelmäßig ins Exil gehen.
Zentral für die Zukunft Madagaskars wird also wohl sein, welche politischen Lehren die Generation, die gerade Präsident und Regierung ihres Landes innerhalb weniger Wochen aus dem Land vertrieben hat, aus diesen Ereignissen zieht. Lässt sie sich von einem neuen vermeintlichen Heilsbringer blenden, wie es auch Rajoelina vor 16 Jahren zu sein schien? Oder sucht und findet sie die Ursachen für die bittere Armut des Landes trotz an Bodenschätzen überaus reicher Natur im kapitalistischen Neokolonialismus?

