Zeitung für Solidarität und Widerstand

Waffenruhe: Gaza atmet auf – doch der Frieden bleibt fragil

Israel beginnt den teilweisen Truppenabzug nach Zustimmung zu einem von den USA vermittelten 20-Punkte-Plan. Hunderte Familien kehren vorsichtig nach Gaza zurück, während Drohnen und Kampfjets weiter über der Region kreisen. Einige Punkte, wie Gefangenenaustausch und Entwaffnung der Hamas, bleiben jedoch heikel.

Zum ersten Mal seit über einem halben Jahr hallen in großen Teilen des Gazastreifens keine Explosionen durch die Nacht. In den frühen Morgenstunden des Freitags hat sich die Lage in den meisten Gebieten beruhigt – auch wenn von einer stabilen Waffenruhe noch keine Rede sein kann. Israel begann den teilweisen Abzug seiner Truppen aus Gaza, nachdem sein Kabinett am Donnerstagabend für die Annahme eines Abkommens zur Beendigung des Kriegs in Gaza gestimmt hatte.

Nach Berichten aus al-Nuseirat und Gaza-Stadt ziehen sich israelische Truppen aus mehreren Stadtteilen zurück, während hunderte Familien vorsichtig versuchen, in Richtung Norden zu ihren zerstörten Häusern zurückzukehren. Zivilist:innen bewegen sich aus provisorischen Lagern in den südlichen Regionen Richtung Gaza-Stadt. Doch gleichzeitig kreisen Drohnen und Kampfjets über den Gebieten und vereinzelt werden noch Angriffe gemeldet.

Auch die Zivilschutzbehörde Gazas warnt eindringlich davor, sich den Rückzugsgebieten zu nähern, solange der Abzug nicht offiziell bestätigt ist: „Wer die Warnung missachtet, bringt sein Leben in Gefahr“, heißt es in einer Erklärung auf Telegram.

Hintergrund des Abkommens: Der 20-Punkte-Plan

Die fragile Ruhe basiert auf einem umfassenden 20-Punkte-Plan, der vom US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump entworfen worden ist. Die israelische Regierung hat die erste Phase des Waffenstillstandsplans gebilligt, der die Freilassung aller im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln vorsieht.

Der 20-Punkte-Plan für Gaza: Der Weg zum Frieden?

Der Plan sieht unter anderem vor:

  • Einen vollständigen israelischen Rückzug aus Gaza in mehreren Phasen.
  • Einen groß angelegten Gefangenenaustausch: Hamas soll zunächst 20 israelische Geiseln freilassen, im Gegenzug soll Israel 250 palästinensische Gefangene entlassen.
  • Eine internationale Übergangsverwaltung mit technokratischer Führung, die unter Aufsicht eines sogenannten Board of Peace steht – einem von den USA initiierten Aufsichtsgremium.
  • Die schrittweise Entwaffnung der Hamas und anderer militärischer Gruppen.
  • Internationale Sicherheitsgarantien durch eine multinationale Task Force im Gazastreifen.

Diese Struktur soll nach US-Vorstellung zu einem „stabilen, friedlichen und wirtschaftlich offenen Gaza“ führen. Dabei wird teilweise kritisiert, dass Donald Trump sich jetzt als Friedensbringer inszeniert, aber zuvor die israelische Kriegsführung durch Waffenlieferungen, politische Rückendeckung und diplomatische Blockaden ermöglicht habe.

Kritiker werfen dem von Trump vermittelten Abkommen zudem vor, lediglich einen „Scheinfrieden“ zu schaffen, während die grundlegenden Probleme – Besatzung, Apartheid und Blockade – weiterhin bestehen blieben. Wirkliche Gerechtigkeit sei nur möglich, wenn es eine vollständige Befreiung gäbe und alle Menschen gleiche Rechte genießen würden.

Kritischer Punkt: Entwaffnung der Hamas

Besonders umstritten bleibt der Punkt der Entwaffnung der Hamas. Israel verlangt schon lange die vollständige Übergabe aller Waffen und die Auflösung der Organisation als Voraussetzung für eine permanente Waffenruhe. Hamas lehnte dies bisher öffentlich ab, soll laut europäischen Vermittlern aber intern zu einer teilweisen Übergabe offensiver Waffen bereit sein: „Sie könnten Kurz- und Langstreckenraketen abgeben, niemals aber ihre leichten Waffen oder Tunnelnetzwerke“, sagt der palästinensische Forscher Azmi Keshawi.

Ein vollständiges Abrüsten hält auch der Analyst Hugh Lovatt vom European Council on Foreign Relations für unwahrscheinlich. Er spricht von einem möglichen „Decommissioning-Prozess“, ähnlich wie in Nordirland, bei dem nur bestimmte Waffen übergeben würden – unter internationaler Kontrolle.

Die Verhandlungen über eine mögliche Entwaffnung der Hamas gelten also als einer der kritischsten Punkte des aktuellen Waffenstillstands. Ein Scheitern in dieser Frage könnte zur Wiederaufnahme der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen führen.

Gaza: Hamas akzeptiert Teile von Trumps Plan – Ausgang unklar

Militärische Realität: Zwischen Feuer und Rückzug

Trotz der angekündigten Waffenruhe dauern die militärischen Aktivitäten an.
Noch in der Nacht auf Freitag feuerten israelische Panzer und Artillerie auf Ziele in
Chan Yunis im Süden. Auch in Gaza-Stadt kam es zu Luftangriffen. Diese Angriffe sind laut Beobachtern die ersten seit der formellen Zustimmung Israels zur Waffenruhe am späten Donnerstagabend.

In der Praxis bedeutet das: Der Waffenstillstand ist beschlossen, aber noch nicht voll umgesetzt. Die israelischen Streitkräfte halten weiter Positionen an zentralen Verkehrsachsen, insbesondere entlang des sogenannten Netzarim-Korridors, der den Gazastreifen in Nord und Süd teilt. Dort warten hunderte Menschen auf die Freigabe der Straße, um nach Gaza-Stadt zurückzukehren.

Israel kündigte am Freitagvormittag an, seine Truppen bis spätestens Mittag auf die im Waffenstillstandsabkommen vereinbarten Linien zurückzuziehen. Den vereinbarten teilweisen Abzug und die damit beginnende 72-Stunden-Frist für die Hamas, die israelischen Geiseln freizulassen, gab man kurz darauf bekannt: Gegen 11:30 erklärten die Israelischen Streitkräfte, dass der Waffenstillstand nun in Kraft getreten ist.

Gefangenenaustausch: Auf palästinensischer Seite noch keine finalen Listen

Parallel zur militärischen Umsetzung bestehen weiter Unklarheiten über den Gefangenenaustausch: Das palästinensische Gefangenenbüro ASRA erklärte, dass kursierende Listen über die Freilassung von Häftlingen „unzuverlässig und nicht offiziell“ seien. Offizielle Namenslisten sollen erst veröffentlicht werden, wenn eine endgültige Einigung erreicht ist.

Derzeit steht fest, dass Hamas binnen 72 Stunden nach israelischer Zustimmung 20 lebende israelische Geiseln übergeben soll, gefolgt von den Leichnamen 28 getöteter Geiseln – das genaue Timing ist jedoch offen.

Internationale Sicherheitsgarantie: US-geführte Task Force

Ein zentraler Bestandteil des Waffenstillstands ist die Einrichtung einer multinationalen Sicherheitsstruktur unter US-Führung. Das Civil-Military Coordination Center (CMCC), angesiedelt beim US-Zentralkommando, umfasst 200 US-Soldat:innen sowie Vertreter:innen aus Ägypten, Katar, der Türkei und vermutlich den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Diese Truppe soll nicht in Gaza selbst, sondern in Israel stationiert werden, um den Rückzug und die Einhaltung der Waffenruhe zu überwachen. Die ausländischen Partner könnten jedoch in Gaza aktiv werden, um humanitäre Hilfe zu koordinieren und den Zugang zu sichern.

Laut Pentagon, dem US-Verteidigungsministerium, handele es sich um eine „pivotal security guarantee“ – eine entscheidende Sicherheitsgarantie, welche die Hamas offenbar überzeugt habe, dem Deal zuzustimmen.

Hilfslieferungen und Mobilität

Israel wird laut Berichten des Armee-Radios täglich 600 LKW mit Hilfsgütern wie Lebensmitteln, medizinischer Ausrüstung und Treibstoff in den Gazastreifen hinein lassen. Palästinensische Bewohner:innen, die während des Krieges die Enklave verlassen haben, dürfen über den Rafah-Grenzübergang zurückkehren.

Auch Ausreisen nach Ägypten sind möglich – ohne Obergrenze der Personenanzahl, allerdings unter Aufsicht der EU-Mission und mit israelischer Genehmigung. Die Rückkehr nach Gaza soll nach der Koordination mit den ägyptischen Behörden beginnen.

Internationale Reaktionen

In der Nacht auf Freitag reagierten zahlreiche Regierungen auf die Einigung: Deutschland sagte 29 Millionen Euro humanitärer Hilfe zu und kündigte eine internationale Wiederaufbaukonferenz mit Ägypten an. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betonte in Paris die Notwendigkeit, den Siedlungsbau im Westjordanland zu stoppen, da er den Frieden gefährde. Gleichzeitig trafen sich Vertreter aus Frankreich, Katar, Jordanien, Ägypten und Saudi-Arabien in Paris, um ihre Rolle bei der Stabilisierung des Gazastreifens zu klären.

US-Präsident Trump plant unterdessen am Wochenende eine Reise nach Israel, um die Unterzeichnung der ersten Umsetzungsphase zu begleiten. Am Montag soll er im israelischen Parlament sprechen.

Perspektive Online
Perspektive Onlinehttp://www.perspektive-online.net
Hier berichtet die Perspektive-Redaktion aktuell und unabhängig

MEHR LESEN

PERSPEKTIVE ONLINE
DIREKT AUF DEIN HANDY!