Zeitung für Solidarität und Widerstand

Wir Töchter kämpfen gegen Rassismus und Frauenhass, Herr Merz!

Letzten Dienstag polemisierte Friedrich Merz mit einer rassistischen Aussage zum Stadtbild deutscher Innenstädte. Wenige Tage später riet er all seinen Kritiker:innen, sie sollen mal ihre Töchter fragen – die wüssten, was er meine. Aber was genau meint Merz denn eigentlich und was wissen „die Töchter“ darüber? – Ein Kommentar von Tabea Karlo

Die Zahl der gestellten Asylanträge ist im letzten Jahr deutlich zurückgegangen. In einer Äußerung am Dienstag kommentierte der Bundeskanzler Friedrich Merz das mit den Worten, man habe dennoch weiterhin ein Problem im „Stadtbild“ – später legte er nach: Wer denke, er habe etwas zurückzunehmen, solle seine Töchter fragen, was er damit gemeint habe.

Der Kontext der Aussage ist unumstritten und auch Merz leugnet ihn nicht. Es geht darum, dass man die Folgen von „irregulärer Migration“ nach Deutschland sehen würde. Während Merz selbst seine Aussage auch später nicht konkretisiert, ist für viele klar, dass er damit Geflüchtete verantwortlich macht für sämtliche Probleme deutscher Großstädte: Armut, Obdachlosigkeit, Drogenkonsum, aber im Kontext der Töchter-Aussage vor allem sexualisierte Gewalt und Übergriffe an Frauen.

Die Meinungen in Deutschland dazu sind geteilt. Auf der einen Seite demonstrieren Tausende unter dem Motto „Wir sind das Stadtbild“ und einige Tage später „Wir sind die Töchter“ in Berlin. Auf der anderen Seite freuen sich andere, dass es endlich mal jemand anspricht.

Wir sind das Stadtbild, wir sind eine Klasse

Merz’ Aussage spaltet die Gesellschaft – und genau das soll sie auch. In vermeintlich „gute“ und „schlechte“ Migrant:innen; in solche, die das Problem „sehen“, und solche, die es „leugnen“. In solche, die ihre Töchter „schützen“, und solche, die sie Gewalt „ausliefern“.

Mehr oder weniger geschickt werden gesellschaftliche Probleme damit auf Migrant:innen und insbesondere Geflüchtete abgewälzt: Weltweit gibt es mehr Kriege und Auseinandersetzungen, die auch mit deutschen Geldern finanziert werden, infolgedessen brauchen immer mehr Menschen Schutz in Deutschland. Die Menschen, die flüchten, sollen laut Merz das Problem sein. Durch steigende Lebensmittelpreise, Mieten und eben Flucht werden Menschen obdachlos – die Obdachlosen seien laut Merz das Problem, besonders die migrantischen.

Durch ein sich zuspitzendes gesellschaftliches Klima und ein reaktionäres Frauen- und Familienbild, das sich ausbreitet, steigt die Gewalt an Frauen? Die Täter sollen die „Anderen“ sein. Die Töchter wüssten schon, was er damit gemeint habe. Besonders originell ist das nicht, aber das war rechte Hetze noch nie.

Wissen „die Töchter“, was sie meinen, Herr Merz?

Wie viele andere Frauen in Deutschland, und die meisten anderen Menschen im Übrigen auch, weiß ich genau, was Merz mit seiner Aussage meint. Während er selbst herzlich unkonkret bleibt, ist selbst für den unaufmerksamen Beobachter klar, dass Merz die Kritik an steigender Gewalt an Frauen aufgreift und Geflüchtete als Ursache stilisiert.

Insofern ist klar, was er „meint“, wenn er über das Problem im „Stadtbild“ spricht. Steigende Gewalt, Übergriffe und letztlich die Auswirkungen eines gesellschaftlichen Klimas, das sich immer weiter nach rechts verschiebt und Frauen in eine vorgefertigte enge Rolle pressen will, spüren sicherlich viele Frauen.

Wo man genauer hinschauen sollte, ist der vermeintlich klare Schluss auf die Ursachen dessen und die Implikation, wer die Gewalt ausübt und wo sie stattfindet.

Wer sind die Täter?

Stundenlang könnte man jetzt versuchen, Statistiken auseinanderzunehmen und zu versuchen, zu bewerten, wer viel Gewalt ausübt, wie und an welchen Orten es dazu kommt. Es muss aber klar sein, dass es Merz nicht darum geht, wenn er die Herkunft von Personen als Hauptursache für patriarchale Gewalt darstellt.

Würde man das tatsächlich herausfinden wollen, dann müsste man nicht nur Statistiken der letzten Jahre zu Tätern und Betroffenen anschauen. Man müsste theoretisch auch noch versuchen, Dunkelziffern zu kalkulieren, die insbesondere bei sexualisierter Gewalt extrem hoch sind und noch mehr in die Höhe springen, wenn man berücksichtigt, dass vieles in Deutschland heute gar nicht strafbar ist. Bis vor ein paar Jahren durfte man schließlich noch ohne Probleme einer Frau unter den Rock greifen.

Sexualisierte Gewalt kennt keine Hautfarbe

Darüber hinaus müsste man verstehen, wer wann und aus welchen Gründen Anzeigen stellt und ob aufgrund rassistischer Stereotype insgesamt schneller Anzeigen gegen Migrant:innen gestellt werden, während es recht unstrittig ist, dass Frauen in Partnerschaften, egal welcher Nationalität, sich häufig nicht trauen, Gewalt anzuzeigen.

Um dann tatsächliche Schlüsse für eine Arbeit gegen Gewalt zu ziehen, müsste man die Motivation der Täter untersuchen: In welchen Situationen kommt es zu Gewalt und woraus ergibt sie sich?

Die Täter sind Männer – nicht nur Migranten

Wenn man also von einem wissenschaftlichen Standpunkt über patriarchale Gewalt sprechen möchte, dann lässt sich vor allem sagen, dass ein großer Teil der Studien die dafür notwendigen Standards nicht erfüllt. Brauchbar und übrig bleiben dann vor allem zwei Zahlen, die so klar aus allen anderen hervorstechen, dass man sie nicht ignorieren kann.

Ein überwiegender Großteil der Täter ist männlich und ein großer Teil der Taten findet zu Hause statt. Hier wäre also vor allem eine Analyse angebracht, warum Männer deutlich häufiger zu Tätern werden. Setzt man das Ganze in einen gesellschaftlichen Kontext, wird schnell auffallen, dass Frauen und andere Geschlechter noch immer ökonomisch deutlich schlechter gestellt sind, einen großen Teil der Hausarbeit tragen und rechtliche Nachteile haben. Im Kontext einer gesellschaftlichen Analyse könnte man also dazu kommen, dass auch diese Faktoren bedeutend sind, um zu verstehen, wer viel Gewalt erlebt.

Hinzukommen würde hier noch die Analyse der konkreten gesellschaftlichen Umstände – zum Beispiel ob in Ländern, in denen Faschismus herrscht, die Anzahl an patriarchalen Gewaltdelikten steigt.

Merz schützt uns nicht!

Das alles interessiert Merz aber nicht. Der ist nämlich gar kein Vorkämpfer gegen patriarchale Gewalt oder „Beschützer“ der Frauen. Er ist ein Karrierepolitiker, der im Konkurrenzkampf gegen die AfD rassistische Stereotype nutzt, um seine eigene Partei zu „pushen“. Er ist ein Kapitalist, der Menschen als verwertbare Arbeitskräfte sieht und den Menschen über seine ökonomische Verwertbarkeit misst. Und vor allem anderen ist er reich. Er verteidigt ein Klassensystem, das sowohl dauerhaft Kriege als auch Armut produziert, und die Schuld dafür schustert er den unterdrücktesten Teilen der Gesellschaft zu.

Der Vergleich mit Goebbels Aussage: „Sie [die Juden] verderben nicht nur das Straßenbild, sondern auch die Stimmung.“ ist daher auch gar nicht mal so weit hergeholt, sondern eigentlich – so furchtbar es ist – treffend. Schließlich ist es ein faschistischer Klassiker, die gesellschaftlichen Probleme, die eine Klassengesellschaft mit sich bringt, auf die „Rassenfrage“ oder heute die Herkunft umzumünzen. Die Angst und Wut der Menschen werden dabei weg von der eigentlichen Ursache umgelenkt auf diejenigen, die noch weniger haben als sie selbst.

Was sagen denn nun die Töchter?

In den Protesten rund um Merz wird immer wieder seine Äußerung aufgegriffen, man solle die eigenen Töchter fragen – was sagen denn nun die Töchter?

Erst mal gar nichts Einheitliches. Die Töchter sind nämlich im Gegensatz dazu, wie Merz sie darstellt, nicht einfach eine homogene Menge naiver junger Frauen mit Angst vor Migrant:innen, die alle dasselbe zur Thematik zu sagen haben. Manche Frauen und Mädchen mögen das so wie er sehen — viele aber wohl eher nicht. Denn während die Frauen in Deutschland so unterschiedlich wie die Gesellschaft selbst sind, zeigen uns Statistiken, die sich auf junge Frauen spezialisieren, eher genau den gegenläufigen Trend zu Merz’ Aussage. Junge Frauen – auf die er sich mit „Töchter“ vermutlich bezieht – tendieren nämlich derzeit politisch nach links.

Indem er sich vor allem auf „Töchter“ bezieht und nicht auf Frauen als Ganzes, nutzt Merz im Übrigen noch einen weiteren rechten „Talking Point“. Und zwar den der jungen Frauen, die sich zum einen nicht selber schützen können, weil sie noch so jung und hilfsbedürftig sind. Die zum anderen im Wesentlichen deshalb schützenswert sind, weil sie die Töchter von jemand anderem sind – weil sie Töchter eines Vaters sind, der sich sorgt.

In diesem Sinne sollten wir uns alle große Mühe geben, uns nicht von Menschen wie Merz verkaspern zu lassen. Der deutsche Staat und insbesondere Merz standen im Kampf gegen patriarchale Gewalt noch nie auf unserer Seite – war er es doch, der noch im letzten Jahr gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen eintrat und behauptete, das Thema „Schwangerschaftsabbrüche“ würde die Gesellschaft spalten. War er es doch, der in seiner frühen Karriere gegen eine Illegalisierung der Vergewaltigung in der Ehe stimmte.

Unsere Antwort muss sein, dass wir uns selbst schützen. Merz’ Aussagen schützen uns nicht, sie rechtfertigen bloß seine rassistische Politik. Sie verstärken eine Spaltung in der Gesellschaft. Sie hindern uns daran, den Kampf gegen patriarchale Gewalt konsequent zu führen. Sie richten unsere Wut gegen die falschen, statt gegen Menschen wie ihn, die jeden Tag Politik machen, die unsere Rechte beschneiden, — die jeden Tag ein System verteidigen, in dem Gewalt an Frauen Alltag ist.

Tabea Karlo
Tabea Karlo
Perspektive-Autorin seit 2017. Berichtet schwerpunktmäßig über den Frauenkampf und soziale Fragen. Politisiert über antifaschistische Proteste, heute vor allem in der klassenkämperischen Stadtteilarbeit aktiv. Studiert im Ruhrpott.

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