Bei seinem Amtsbesuch Ende Oktober in der Türkei hatte Bundeskanzler Merz viele offene Fragen mit Präsident Erdoğan zu klären. Auf der Bühne streitet man sich über Rassismus und Gaza. Dennoch soll die enge Zusammenarbeit mit der faschistischen Regionalmacht in Westasien weiter Früchte tragen.
Es ist der erste Amtsbesuch von Friedrich Merz in der Türkei. Doch weit kommt er am Donnerstag nicht, ehe er sich indirekter Kritik ausgesetzt sieht: sein türkischer Gegenüber und Partner greift den Rassismus auf, der sich in Merz‘ Deutschland Bahn bricht. „Fremdenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit, die an Rassismus grenzen, wachsen“, so Erdogan. Merz antwortet diplomatisch und hebt den Beitrag der türkischen Gastarbeiter:innen zum Wohlstand Deutschlands hervor.
Merz weiß um die geopolitische Wichtigkeit der Türkei für die Interessen Deutschlands. In vielen sicherheits- und außenpolitischen Fragen spielt die Türkei für Deutschland eine wichtige Rolle. Auch deshalb gibt sich der Kopf der deutschen Regierung gesprächsorientiert.
Ein weiterer möglicher „Flüchtlingsdeal“ sowie der Genozid in Palästina gelten darüber hinaus schon von vorneherein als Hauptthemen für die Zusammenkunft der beiden Staatschefs. Doch auch in anderen Fragen ist man aufeinander angewiesen. Während es Merz vor allem um Assistenz bei Migration und Außenpolitik gehen dürfte, treiben Erdogan eher die Frage nach der EU-Mitgliedschaft, die er seit Jahren fordert, sowie Unterstützung in Form von Eurofightern um. Im Juli hatte die Bundesregierung die Lieferung genehmigt, auf der Bühne verteidigte Merz diese Entscheidung, sie erhöhten „Schutz und Sicherheit aller Nato-Alliierten“.
„Strategische Partnerschaft“, die Interessen schützen soll
Merz gibt sich weiterhin als großer Stratege. In der neuen verschärften Weltlage, die von „großen Mächten“ bestimmt werde, sei es wichtig, dass die EU und Deutschland ihre „strategischen Partnerschaften“ ausbauen. Trotzdem mahnt er, besonders im Hinblick auf einen etwaigen EU-Beitritt der befreundeten Regionalmacht: „Es sind in der Türkei Entscheidungen getroffen worden, die noch nicht den Ansprüchen genügen im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, so wie wir sie aus der europäischen Sicht kennen.“
Eine zurückhaltende Ablehnung in einem Jahr, das mit den härtesten Repressionen durch den türkischen Staat seit langem begann. Es traf nicht nur unzählige Sozialist:innen, sondern auch seinen bürgerlichen Konkurrenten İmamoğlu. Dieser und seine Partei sind zwar selbst eng verbandelt mit dem türkischen Staat, stehen allerdings für eine bürgerlichere Linie als der faschistische Erdogan.
Gleichwohl stimmt Merz ungewöhnliche zugeneigte Töne an, was die Gespräche zum Beitritt in die EU angeht. Er „wolle den Weg nach Europa weiter ebnen“ und weiß, dass „kein Weg an einer guten und vertieften Partnerschaft“ vorbei führt.
Deutschland versucht weiter zu lavieren
Das Ringen um Partnerschaften wie diese ist für Deutschland, wie schon von Merz angesprochen unverzichtbar. Sowohl im Handelskrieg mit den USA, die immer wieder auf ihre Hegemonie in der westlichen Sphäre und der ganzen Welt pocht, als auch im Systemstreit mit dem immer mächtigeren China: Deutschland muss seinen Platz behaupten, um nicht im Clinch der führenden Mächte zerrieben zu werden.
Das zeigte sich zuletzt in den Wochen vor Merz Besuch in Ankara, nachdem der niederländische Staat ein chinesisches Halbleiter-Unternehmen beschlagnahmt hatte, woraufhin die Chip-Versorgung ganzer Industriezweige, vor allem auch der deutschen Auto-Industrie unter Druck geriet.
Immer wieder wird die deutsche Strategie, von guten Staats- und Handelsbeziehungen mit allen möglichen Staaten zu profitieren, zum Verhängnis. In der sich zuspitzenden Weltlage sieht man sich immer öfter gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Dennoch will Deutschland (noch) nicht anders und versucht weiter zu lavieren, wie jetzt mit der Türkei.
Unterschiedliche Standpunkte – ähnliche Ziele?
Auch wenn bei der Frage nach der Legitimität der israelischen Kriegsführung in Gaza bestimmte Unterschiede zutage treten: auch Erdogan, weiß um die Wichtigkeit der Zusammenarbeit.
So kritisiert er fleißig Israel, nicht jedoch das deutsche Verhalten im Bezug auf den Genozid in Gaza. Merz versteht den Wink, vor seiner eigenen Haustür zu kehren, wie schon zuvor bei der Migrationsfrage. Während er auf die Verantwortung der Hamas verweist, die er als entscheidend für den Genozid in Gaza sieht, dankt er gleichzeitig Erdogan für seine Initiative beim Verhandeln des neuen Waffenstillstandes.
Insgesamt wird klar: Beiden ist es wichtiger, sich einig zu werden, als auf einzelnen Punkten zu beharren. Doch Erdogans Sticheleien zeigen: Die Zeiten des „Wertewestens“ sind vorbei, und wer als imperialistischer Staat heute noch vorankommen möchte, sollte sich auf Interessen statt auf Werte konzentrieren. Das sieht auch Merz so und schüttelt dafür fleißig Hände – auch wenn noch so viel Blut daran klebt.

