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Ein Jahr nach dem Unglück von Novi Sad: Zehntausende fordern Aufklärung und Wandel

Ein Jahr nach dem Unglück von Novi Sad gingen wieder zehntausende Menschen auf die Straße. Neben Forderungen nach Gerechtigkeit und Aufklärung verlangen die Demonstrant:innen ein Ende der Korruption und Neuwahlen. Doch trotz des langanhaltenden Widerstands in ganz Serbien bleiben die erhofften Veränderungen aus.

Große Kundgebungen am Jahrestag der Tragödie des Einsturzes des Bahnhofsvordachs am Bahnhof von Novi Sad haben die monatelange Protestpause beendet, die durch das Ende des akademischen Jahres sowie die Auflösung der Blockaden an den Fakultäten und anderen Institutionen während des Sommers ausgelöst worden war. Zehntausende Menschen gingen am Jahrestag des Unglücks von Novi Sad auf die Straße.

Der Einsturz eines kürzlich renovierten Bahnhofsvordachs tötete damals 16 Menschen und löste eine breite Welle an Protesten aus, die bis heute anhält. Ein großer Teil der Teilnehmer:innen des Gedenkmarschs bestand aus Studierenden und jungen Erwachsenen. Hunderte kamen außerdem aus Solidarität mit den 16 Opfern nach einem 16 Tage langen Marsch in die Stadt. Die Protestierenden versammelten sich um 11:53 Uhr am improvisierten Absperrzaun des ehemaligen Bahnhofs und hielten eine 16-minütige Schweigeminute ab.

In erster Linie war die Kundgebung eine Gedenkveranstaltung, und das war auch ihre zentrale Botschaft und ihr wesentliches Merkmal – sie verlief friedlich. Die Forderungen der Demonstrant:innen blieben dieselben: Sie verlangten Konsequenzen und Aufklärung. Trotz der umfangreichen Ermittlungen, die Korruptionsverbindungen rund um die Sanierung und den Bau offenlegten, gab es im Fall des Bahnhofs Novi Sad bislang keine einzige Verurteilung.

„Forderungen nach Wahlen haben die Reden dominiert, obwohl Wahlen keines der Probleme lösen können – auch wenn sie als gemeinsames Ziel anerkannt werden“, erklärte eine Sprecherin der serbisch-kroatischen Organisation Crvena akcija (dt. Rote Aktion).

Mutter tritt in Hungerstreik

Auch beklagten die Teilnehmenden den Umgang der aktuellen Regierung mit den Protesten. Statt auf den Willen des Volkes einzugehen, reagierte die Regierung mit minimalen Zugeständnissen, aber vor allem mit massiver Polizeigewalt. Während der Demonstration kündigte eine Mutter eines der getöteten Jugendlichen an, aus den genannten Gründen in den Hungerstreik zu treten.

„Heute trauert Novi Sad. Aber ich kämpfe, damit keiner von uns jemals wieder trauern muss. Ich werde Aleksandar Vučić auffordern, Neuwahlen auszurufen“, sagte Diana Hrka, die Mutter des getöteten Stefan Hrka. Sie hatte bereits vor Beginn des Protests auf Instagram angekündigt, ab 11:53 Uhr – der exakten Uhrzeit des Einsturzes, der ihrem Sohn das Leben nahm – in den Hungerstreik zu treten.

Längste Protestbewegung Serbiens: Seit 10 Monaten gegen das System Vucic

Die Fassade bröckelt bis nach Belgrad

Die frisch sanierte Fassade des Bahnhofs war kein Jahr alt, als sie kollabierte. Als Teil der großen Zugstrecke zwischen China und Serbien sollte der Bahnhof von Novi Sad modernisiert werden. Teile der fast 80 Jahre alten Struktur mussten erneuert werden. Anfang 2023 begannen die Arbeiten. Doch statt öffentlicher Ausschreibungen wurden die Aufträge an regierungsnahe Unternehmen vergeben, die keiner unabhängigen Aufsicht unterstanden. Trotz mehrerer Festnahmen kurz nach der Tragödie wurde bislang niemand verurteilt.

In einem der ersten Statements nach dem Unglück richtete sich der serbische Präsident Aleksandar Vučić vor der Demonstration an die Studierenden und seine politischen Gegner:innen. „Ich kann den Ärger verstehen. Ich hoffe aufrichtig, dass diese Fragen bald beantwortet werden. Für mich ist es wichtig herauszufinden, was passiert ist und wie man ein erneutes Auftreten verhindern oder zumindest das Ausmaß so gering wie möglich halten kann“, erklärte er.

Seine Ansprache sorgte für Aufruhr: Viele Menschen hatten gehofft, der Präsident würde Verantwortung übernehmen, doch stattdessen übte er Kritik an den Demonstrant:innen. Indirekt beschuldigte er sie, für „all diesen Hass, der in unserer Gesellschaft brodelt“, verantwortlich zu sein. „Viele haben gegen die Regeln verstoßen und Gewalt gegen den Staat und fremdes Eigentum verübt. Genauso wie einige Wut zeigten, bedauere ich auch einige meiner Äußerungen. Dafür entschuldige ich mich“, sagte Vučić.

Nach über einem Jahr leisten die Menschen in Serbien immer noch Widerstand. In der längsten Protestwelle in der jüngeren Geschichte des Landes beteiligen sich Kräfte aus allen gesellschaftlichen Schichten – angeführt von der Jugend. Die Protestbewegung bringt weiterhin die Missstände im Land zum Vorschein – Missstände, die auch nach einem Jahr voller Trauer, Wut und Widerstand unbeantwortet bleiben.

„Gleichzeitig – und das ist entscheidend – befindet sich alles noch im Anfangsstadium. Die Prüfungsphasen des akademischen Jahres 2024/2025 sind gerade erst beendet, und an den meisten Fakultäten beginnt am Montag das neue Studienjahr. All dies kündigt die nächste Phase in der Entwicklung der Bewegung an, deren Charakteristika sich erst jetzt herauszubilden und zu zeigen beginnen werden“, so die Sprecherin von Crvena akcija.

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