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Ein Jahr Genozid in Palästina

Auf den Angriff palästinensischer Kräfte vor einem Jahr reagierte der israelische Staat schnell und brutal. Sein Vorgehen dabei ist Ausdruck einer Politik, die Israel seit seiner Gründung umsetzt. – Ein Kommentar von Andreas Becker.

Mittlerweile erleben wir seit einem Jahr einen anhaltenden Genozid in Palästina. Die israelische Armee hat den nur 360 km² großen Gazastreifen zum größten Teil zerstört. Dabei hat sie schrecklichste Kriegsverbrechen begangen, mindestens 40.000 Menschen ermordet, die Infrastruktur und Grundversorgung mit Medizin, Nahrung und Wasser zerstört, sowie alle Universitäten vernichtet.

Das Vorgehen Israels in Gaza ist kaum richtig zu verstehen, ohne den Zionismus als politische Bewegung in seiner radikalsten Variante zu kennen. Der Zionismus entstand Ende des 19. Jahrhunderts als nationalistische Ideologie von europäischen Jüd:innen. Ausgehend von der Position, dass ihre Assimilation in die bürgerlichen Staaten Europas gescheitert sei, forderte der Zionismus einen eigenen Nationalstaat für die Jüd:innen. Als Ziel wurde Palästina ausgewählt. Dieses Land war jedoch bereits besiedelt, nämlich neben einer jüdischen Minderheit vor allem von arabischen Muslim:innen.

Die zionistische Bewegung versuchte ihr Ziel eines jüdischen Staates in Palästina zunächst durch Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich und den europäischen imperialistischen Staaten sowie durch das Ansammeln von Kapital zum Ankauf von Land zu erreichen. Später setzte sich ein radikaler, ultranationalistischer Flügel unter den Zionist:innen durch, welche die Gründung eines eigenen Staates durch die Vertreibung der arabischen Bevölkerung durchsetzen wollten. Die damalige englische Kolonialmacht wiederum stachelte den nationalen und religiösen Hass zwischen Jüd:innen und Araber:innen in Palästina gezielt an, um ihre Kontrolle über das Land zu sichern.

Die Situation eskalierte schließlich 1948, als das Land gemäß UN-Resolution zwischen Jüd:innen und Araber:innen geteilt werden sollte. Nach der Staatsgründung Israels griffen mehrere arabische Staaten das Land an. Israel gewann den anschließenden Krieg mit Unterstützung der westlichen Imperialisten und nutzte ihn, um die Palästinenser:innen mithilfe der Armee und radikalzionistischen Milizen aus ihren Siedlungsgebieten zu vertreiben.

Vorgeschichte des Krieges

Die heutige israelische Regierung Netanyahu steht in der Tradition der radikalsten nationalistischen Teile des Zionismus. Ihr gehören offen faschistische Kräfte an wie die Partei Otzma Yeduhit von Itamar Ben-Gvir, heute Minister für nationale Sicherheit des Landes. Sie sind die Architekten des grausamen Vorgehens der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen seit Kriegsbeginn. Dieser erfolgte nach dem Angriff der Hamas und anderer palästinensischer Organisationen auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem Massaker verübt und zahlreiche Geiseln genommen wurden.

Der Angriff am 7. Oktober ist jedoch nicht vom Himmel gefallen. Das Problem, dass in Israel / Palästina auf einem kleinen Landstreifen zwei Nationen wohnen, ist bis heute nicht gelöst. Während Israel sich — vor allem mithilfe mächtiger imperialistischer Länder wie den USA — zur ökonomischen und militärischen Regionalmacht und zu einem Hightech-Standort entwickelt hat, haben die Palästinenser:innen bis heute keinen Staat. Ihre Gebiete stehen de facto unter der Kontrolle von Israel.

Die Politik, die der israelische Staat seit Jahrzehnten gegenüber den Palästinenser:innen verfolgt, ist vor allem die Westbank als größtes palästinensisches Gebiet, durch gezielten Bau von durch Israelis bewohnten Siedlungen so stark zu zerstückeln, dass es schier unmöglich wird, dass dort jemals ein von Palästinenser:innen kontrollierter Staat entstehen könnte. Ökonomisch ist die Westbank bereits so in die israelische Wirtschaft integriert, dass sie allein nur schwerst möglich überlebensfähig wäre.

Der Gazastreifen wurde währenddessen bis zum 7. Oktober 2023 in einer Situation des Überlebens gelassen. Israel hatte dort keine Siedlungen mehr und konnte den Streifen weder militärisch noch politisch kontrollieren, wohl aber wirtschaftlich durch gezielte Unterentwicklung und eine nahezu komplette Blockade. Israel wollte die Bedingungen, denen die Bevölkerung in Gaza ausgesetzt war, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, desaströse Versorgung mit Dingen des tägliches Bedarfs etc. zwar so schlecht lassen, dass sich von dort keine Bedrohung entwickeln kann, aber auch nicht so, dass die Menschen nicht anders können als in solchen Massen Widerstand zu leisten, und zum Problem für die israelische Sicherheit werden. Die Illusion, dass sich dieser Zustand auf Dauer halten lässt, wurde mit den Angriffen vom 7. Oktober gebrochen.

Anhaltende Vernichtung

Der Angriff palästinensischer Kräfte vom 7. Oktober und dessen Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung hat sich also auch aus den auf Dauer nicht aushaltbaren Bedingungen geschöpft, denen die Palästinenser:innen im Gazastreifen tagtäglich ausgesetzt sind. Auf den Angriff und die Massaker antwortete der israelische Staat wiederum mit einem Krieg, der an Brutalität seines Gleichen sucht.

Der israelische Staat nutzt diese Chance, um seinen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung wieder einmal hochzufahren. Dieses Mal scheint es keinen sauber ausgearbeiteten Plan zu geben, Israel scheint von dem Erfolg der Offensive tatsächlich überrascht worden zu sein und versucht nun in der komplexen Situation seine Ziele umzusetzen. Zum einen hat Israel Gaza so stark zerstört, dass es komplett wieder aufgebaut werden muss, gleichzeitig kann Israel in der aktuellen Situation bei einem Wiederaufbau seine Bedingungen diktieren.

Wegen des Drucks von anderen Staaten kann Israel nicht alle zwei Millionen Palästinenser:innen in Gaza auf einmal ermorden, wohl aber größtmögliche zivile Opfer verursachen. Regelmäßig wurden im letzten Jahr ganze Familien ausgelöscht. Auch die Pläne, die Bevölkerung nach Ägypten zu vertreiben, sind bis jetzt gescheitert. In Gaza leben immer noch mehr als zwei Millionen Menschen, fast die Hälfte davon minderjährig, in den schlimmsten vorstellbaren Bedingungen. Obwohl Israels wichtigster Verbündeter, die USA, kein Interesse daran hat, dass sich der Krieg ausweitet, nutzte Israel die Situation auch um seine regionalen Feinde, allen voran den Iran, zu provozieren und ihnen größtmöglichen Schaden zu zufügen.

Nach einem Jahr ist immer noch kein Ende des Genozides in Sicht. Allerdings ist die Zukunft auch ungewiss. Israels aggressive Außenpolitik steht kurz davor es in einen regionalen Krieg zu ziehen, im dem ein Sieg in keiner Weise sicher wäre und international ist Israel so isoliert wie nie zu vor. Des Weiteren hat der Genozid weltweit zu riesigen pro-palästinensischen Protesten geführt. Und in Palästina selber? Dort hat die ungeheure Brutalität Israels das Feuer des Widerstands sicherlich in neuem Maße entfacht.

Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 91 vom September 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

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