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    Ex-Wirecard-Vorsitzende zu 140 Millionen Euro Schadensersatz verurteilt

    Der Finanzdienstleister Wirecard galt lange als deutsche Erfolgsgeschichte. Dabei hatte Wirecard 1,9 Milliarden Euro in den Bilanzen frei erfunden. Nun gibt es ein Urteil: drei Vorstandsvorsitzende wurden zu 140 Millionen Euro Schadensersatz verurteilt. Aktionäre werden davon jedoch kaum profitieren – und die Arbeiter:innenklasse erst recht nicht. – Ein Kommentar von Jens Ackerhof.

    Eine Bilanz mit 1,9 Milliarden frei erfundenen Euro, ein wohl nach Russland abgetauchter ehemaliger Manager mit Geheimdienstverbindungen und ein seit vier Jahren in Untersuchungshaft sitzender Vorstandsvorsitzender – der Skandal um den Finanzdienstleister Wirecard liest sich wie ein Krimi. Am Ende der meisten Krimis wird am Ende der Täter gestellt und „Recht und Ordnung“ sind wiederhergestellt.

    Im Wirecard-Skandal geht es jedoch nicht nur um einzelne Verbrecher. Es geht auch um staatliche und nicht-staatliche Institutionen, die Wirecard geschützt, und deutsche Politiker:innen, die eifrig Lobbyismus für das Unternehmen betrieben haben. Nun hat das Landgericht München den Wirecard-Chef Markus Braun und zwei weitere Vorstände zu insgesamt 140 Millionen Euro Schadensersatz verurteilt. Es lohnt sich daher, den Wirecard-Skandal und seine Folgen zusammenzufassen und politisch einzuordnen.

    Der Aufstieg von Wirecard

    Wirecard wurde bereits 1999 als Start-up in München gegründet. Das Geschäftsmodell bestand darin, eine Schnittstelle zwischen dem damals gerade erst entstehenden Online-Handel, den Kreditkartenunternehmen und den Kund:innen zu bieten. Besonders in der Anfangszeit wurden vor allem Zahlungen in der Porno-Branche abgewickelt. Seinen rasanten Aufstieg erlebte Wirecard erst, nachdem dessen Gründer bereits ausgestiegen war. Die führende Rolle wurde seitdem von Jan Marsalek und Markus Braun übernommen, die im Jahr 2000 jeweils als Projektmanager und Unternehmensberater eingestellt wurden.

    Nachdem eine Vorgänger-Gesellschaft von Wirecard bereits börsennotiert war, wurde das Unternehmen 2018 Teil des prestigereichen Deutschen Aktienindexes (DAX). Markus Braun war zu diesem Zeitpunkt bereits Vorstandsvorsitzender, während Jan Marsalek 2010 zum Chief Operating Officer wurde. Es war vor allem Marsalek, der das Unternehmen ins Ausland expandierte und etliche Zahlungsunternehmen in Asien aufkaufte. Schnell galt Wirecard als größtes Unternehmen der Finanztechnologie (Fintech) in Europa.

    Wie der deutsche Staat Wirecard deckte

    Zweifel an der Seriosität von Wirecard kamen früh auf. Bereits 2008 stellte ein Blogger die erstaunlich hohe Profitabilität und Bilanzierung des Unternehmens in Frage. Wirecard ging aggressiv gegen kritische Stimmen vor und hatte dabei häufig die Rückendeckung des deutschen Staats. So wurde der Blogger der Marktmanipulation beschuldigt und fand eines Tages die Kriminalpolizei vor seiner Tür.

    2015 begann Dan McCrum, ein Reporter für die Financial Times, eine Artikelserie über die Ungereimtheiten in Wirecards Bilanz. Im Januar 2019 veröffentlichte er die Enthüllungen eines Whistleblowers aus Singapur, die den Anfang vom Ende für Wirecard einläuten sollten. Prompt wurde auch er wegen Marktmanipulation verklagt. Als der Kurs von Wirecard nach den Enthüllungen in den Keller fiel, griff die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Wirecard unter die Arme: Im Februar 2019 verbot sie Leerkaufpositionen für Wirecard-Aktien, also simpel gesagt Wetten darauf, dass der Wert der Aktien in Zukunft fallen würde. Die BaFin untersteht dem Finanzministerium, das damals von dem jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geleitet wurde.

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    Dass Anfang 2019 die betrügerischen Praktiken von Wirecard immer offensichtlicher wurden, hielt deutsche Politiker:innen aber nicht davon ab, Lobbyismus im Ausland zu betreiben. Beispielsweise reiste im September des gleichen Jahres die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach China, um sich für die Übernahme eines chinesischen Unternehmens durch Wirecard einzusetzen.

    Auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) bestätigte durchgängig die Bilanzen von Wirecard. Zwar hatten EY und andere bereits 2016 Kenntnisse über Manipulationen von Wirecard bei der Übernahme eines indischen Zahlungsdienstleisters. Als Jan Marsalek EY allerdings anwies, die Untersuchungen einzustellen, leistete sie prompt Folge. Allzu verwunderlich ist das nicht – schließlich werden Prüfgesellschaften wie EY von den Unternehmen selbst angestellt und haben ein Interesse daran, nicht allzu genau hinzusehen.

    Wirecards Untergang und die Folgen

    2020 brach das Kartenhaus dann doch zusammen. Wirecard musste eingestehen, dass 1,9 Milliarden Euro „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren“ und dass auch EY (trotz der von ihnen bestätigten Bilanzen) keine Nachweise für die Gelder hatte. Im Juni des gleichen Jahres meldete Wirecard dann Insolvenz an. Markus Braun und zwei weitere Beschäftigte wurden in Untersuchungshaft genommen. Braun sitzt dort wegen Fluchtgefahr noch heute.

    Jan Marsalek wiederum war die Flucht gelungen, nach ihm wird seitdem gefahndet. Journalistischen Recherchen zufolge hält er sich seitdem in Russland auf –  unter der Tarnidentität eines russisch-orthodoxen Priesters. Obwohl auf Marsaleks Verbindungen zu Russland hier nur kurz eingegangen werden kann, zeugen sie erneut von der Verflechtung zwischen Kapital, Staat und Geheimdiensten.

    So soll Marsalek für den russischen Geheimdienst spioniert haben. Eventuell war sogar Wirecard selbst in die Spionage eingebunden. Hilfreich dabei war das beinahe unüberschaubar komplexe Geflecht an Tochterunternehmen von Wirecard, das wahrscheinlich auch für die Verzerrung der Bilanzen nützlich war. Über dieses Firmengeflecht soll Marsalek auch eine russische Söldnerfirma gekauft haben, die in Libyen als Grenzschutztruppe gegen Geflüchtete eingesetzt werden sollte.

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    Die Prozesse und ein Urteil

    Da die Aktionäre durch Wirecards Betrug enorme Verluste erlitten, wurden in diesem Zusammenhang mehr als 2.200 Klagen vor der Münchener Justiz erhoben. Sie richten sich gegen unterschiedlichste Akteure. Viele fordern Schadensersatz von EY, die jahrelang die Bilanzen abgewunken hatten. Die Prüfgesellschaft strukturierte sich daraufhin um und wandelte seine vier Geschäftsbereiche in eigenständige GmbH um – ein Schritt, der von vielen als Absicherung gedeutet wird. Denn nun können Kläger:innen ihre Schadensersatzforderungen lediglich gegenüber der ausgegliederten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft geltend machen. Dies würde die finanzielle Haftungsmasse von EY drastisch verringern.

    Während der Strafprozess seit zwei Jahren immer noch läuft, kam es nach einer Klage von Michael Jaffé, der die Insolvenz von Wirecard verwaltet hatte, nun zu einem Urteil: Konkret ging es dabei um die Vergabe eines Kredits und die Zeichnung von Schuldverschreibungen. Während ein ehemaliger stellvertretender Aufsichtsratschef verschont wurde, wurden Markus Braun und zwei weitere Vorstände zu insgesamt 140 Millionen Euro Schadensersatz plus Zinsen verurteilt.

    Aktionäre gehen wahrscheinlich leer aus

    Nimmt der Krimi damit sein gerechtes Ende? Wohl kaum: Zum einen ist es zweifelhaft, dass Braun und die Vorstände über die finanziellen Mittel verfügen, die Strafe tatsächlich zu zahlen. Zwar ist es keine Seltenheit, dass angeklagte Kapitalist:innen ihr Vermögen verstecken und sich fälschlich als bankrott erklären. Dass der Star-Anwalt von Braun jedoch wegen mangelnder Finanzierung bereits abgesprungen und Braun nun von Pflichtverteidigern vertreten wird, deutet tatsächlich darauf hin, dass bei ihm nicht mehr viel zu holen ist.

    Es ist also wahrscheinlich, dass die Aktionäre leer ausgehen werden. Viele von ihnen werden es gut verkraften, haben sie doch als Kapitalist:innen selbst erhebliche Gelder zur Verfügung. Doch im Zuge einer immer unsicherer werdenden Altersversorgung setzten auch immer mehr Arbeiter:innen und Kleinbürger:innen auf den Kauf von Aktien – erst recht, als Banken und Politik immer wieder die Sicherheit von Wirecard-Aktien bestätigten.

    Bedeutung des Wirecard-Skandals für die Arbeiter:innenklasse

    Der Skandal zeigt ebenfalls gut, wie gern der deutsche Staat seine heimischen Unternehmen und Monopole auf dem Weltmarkt stark macht. Wie die BaFin, die zunächst Marktmanipulation bei allen, nur nicht bei Wirecard sah, oder deutsche Politiker:innen, die im In- und Ausland für das Unternehmen warben. Auch heute sieht Olaf Scholz keinerlei Verantwortung für seine Rolle im Wirecard- wie auch im Cum-Ex-Skandal.

    Nach den Enthüllungen wurde die BaFin umstrukturiert und soll mit mehr regulatorischen Kompetenzen ausgestattet worden sein. Dass sich die Widersprüche des Kapitalismus jedoch nicht einfach weg regulieren lassen und dass auch kein Interesse der Politik an einer allzu großen Einschränkung des Finanzkapitals vorhanden ist, zeigte bereits die Wirtschaftskrise von 2008. Schließlich wurden bereits damals Rufe nach stärkerer Regulierung laut. Die beschlossenen Maßnahmen konnten aber weder den Wirecard-Skandal verhindern, noch blieb es das letzte Mal, dass die Regierung Rettungspakete für Großbanken schnürte.

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    Dennoch hat die Kapitalist:innenklasse insgesamt kein Interesse daran, dass sich Fälle wie der Betrug von Wirecard allzu oft wiederholen. Schließlich ist es ja Aufgabe des Staats, nicht nur die Profite einzelner Kapitalist:innen, sondern die Profite der ganze Klasse zu sichern. Doch auch wenn der Staat keinen zweiten Wirecard-Skandal möchte, hilft es der Arbeiter:innenklasse wenig: Kleinaktionäre bekommen ihr Geld nicht wieder, abgesehen davon, dass es sich viele von ihnen schlicht nicht leisten können, überhaupt in Aktien zu investieren.

    • Perspektive-Autor seit 2023. Wohnort: Hamburg. Kommentare verfasst er häufig über bürgerliche Politiker:innen und deren Propaganda. Seine Lieblings- und Haustiere sind Ratten.

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