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    Mit Zuckerbrot und Peitsche: Eine Reise durch die Migrationspolitik der Ampel

    Nach dem Anschlag in Solingen spricht Bundesinnenministerin Faeser von der Notwendigkeit, irreguläre Migration zurückzudrängen und „Kriminellen“ das Handwerk zu legen. Tatsächlich fährt die Ampel jedoch schon seit längerer Zeit einen rassistischen Migrationskurs, der eine eindeutige Linie erkennen lässt. – Ein Kommentar von Alexandra Baer.

    Montag, der 16. September 2024: Ein historischer Tag. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) führt für die nächsten sechs Monate Kontrollen an den eigentlich „schengen”-freien Grenzen Deutschlands ein. Begründet werden sie mit den vielen Geflüchteten, die zuletzt nach Deutschland gekommen sind. Dabei wurden im August 2024 etwa 21 Prozent weniger Asylanträge als im Monat des Vorjahres gestellt.

    Faeser legitimiert die Grenzkontrollen auch mit dem Anschlag in Solingen: Mutmaßliche Gewalttäter aus dem Ausland sollen möglichst abgefangen werden, so Faeser.

    Tatsächlich sind die Grenzkontrollen jedoch keine spontane Reaktion auf Solingen, sondern passen ganz wunderbar in den Migrationskurs der Bundesregierung. Wer sich die Maßnahmen im Bereich des Migrationsrechts der letzten anderthalb Jahre ansieht, wird erkennen, dass die Ampel den Anschlag in Solingen nur als Vorwand nimmt, das umzusetzen, was sie seit Jahren vorbereitet:

    1. Januar 2023: Chancenaufenthalt

    Am 1. Januar 2023 tritt das sogenannte Chancenaufenthaltsrecht in Kraft. Es ermöglicht den Menschen, die bereits seit fünf Jahren in Deutschland leben, aber wegen ihrer Herkunft kein Asyl bekommen haben, einen vorübergehenden legalen Aufenthalt. Innerhalb von 18 Monaten sollen diese Geflüchteten Arbeit, Reisepass und Deutsch-Kenntnisse vorlegen, um einen wirklichen Anschlussaufenthalt zu bekommen. Der Chancenaufenthalt dient also in erster Linie der Integration von Geflüchteten in die kapitalistische Produktion, auch wenn er auf individueller Ebene für viele zunächst eine Verbesserung darstellt.

    “Chancenaufenthalt” – Bleiberecht für alle?

    15. Juni 2023: BVerwG erlaubt polizeiliche Durchsuchung bei Abschiebungen ohne richterlichen Beschluss

    Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschied im Juni 2023, dass auch Zimmer in Erstaufnahmeeinrichtungen als Wohnungen im Sinne des Art.13 Grundgesetz gelten und entsprechenden Schutz genießen. Jedoch soll es der Polizei möglich sein, ein Zimmer in einer solchen Erstaufnahmeeinrichtung zwecks einer Abschiebung zu betreten, ohne dass ein:e Richter:in diese Maßnahme anordnen müsse. Das Gericht argumentiert, dass es sich nur um ein „Betreten“ und nicht um eine „Durchsuchung“ handele, wenn es um einen kleinen, überschaubaren Raum geht und es kein zielgerichtetes „Suchen“ der abzuschiebenden Person bedarf.

    In der Konsequenz bedeutet das, dass die Polizei eine richterliche Anordnung braucht, wenn sich die gesuchte Person z.B. in einem Kleiderschrank versteckt – aber nicht, wenn sie direkt im Raum zu sehen ist. Ergibt das für jemanden noch einen Sinn?

    23. Juni 2023: Fachkräfteeinwanderungsgesetz

    Am 23. Juni 2023 beschließt der Bundestag das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, welches das Abwerben hochqualifizierter Fachkräfte aus anderen Ländern ermöglicht. Hintergrund ist eine Vielzahl an offenen Stellen: Ende 2022 zählte das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung fast 2 Millionen offene Stellen – so viele wie noch nie. Im Frühjahr 2023 waren knapp 540.000 Stellen regelmäßig nicht besetzt. Dazu gehören mit der Kranken- und Altenpflege, der Baubranche sowie Berufskraftfahrer:innen gerade diejenigen Berufe, in denen der Migrationsanteil schon jetzt überdurchschnittlich hoch liegt.

    Migration: Arbeitsmarkt in Deutschland nach Herkunft unterteilt

    30. August 2023: Georgien und Moldau nun „sichere Herkunftsländer“

    Georgien und Moldau werden am 30. August 2023 als „sichere Herkunftsländer“ eingestuft, was einfachere Abschiebungen ermöglicht. Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“ unterliegen zudem einem grundsätzlichen Arbeitsverbot, das bislang auch nicht befristet ist oder juristisch aufgehoben werden kann und einzig der Abschreckung und Schikane dient.

    Lindner und Ampel-Regierung auf rechtem Migrationskurs

    Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl kritisieren die Einstufung von Georgien und Moldau als sichere Herkunftsländer: LGBTI+-Personen sind in Georgien nachweislich nicht sicher, und in Moldau kommt es immer wieder zur Diskriminierung von Rom:nja-Minderheiten. Zudem ließ sich in Moldau in den letzten Jahren eine Zunahme von Folter und häuslicher Gewalt beobachten.

    20. Oktober 2023: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“

    Fast ein Jahr ist es nun her, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die neue Migrationspolitik der Ampelregierung schlussendlich besiegelte: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, sagte der Kanzler am 20. Oktober 2023 gegenüber dem Spiegel und fantasierte von einem gut geölten Beamtenapparat, der Tag und Nacht bereitstehe, Menschen aus ihren Wohnungen zu zerren und von ihren Familien zu trennen.

    Entweder Abschieben oder Ausbeuten: Bundeskanzler Olaf Scholz stellt seine Asylpolitik vor

    Die Migrationspolitik der Ampel, die prägnanter mit „Abschieben oder Ausbeuten“ beschrieben werden kann, steht auch im Zusammenhang mit der im Februar 2022 durch Scholz ausgerufenen „Zeitenwende”, welche die Aufrüstung Deutschlands und die schrittweise Wiedereinführung der Wehrpflicht einläutete.

    18. Januar 2024: Rückführungsverbesserungsgesetz

    Mit dem am 18. Januar 2024 beschlossenen Rückführungsverbesserungsgesetz macht die Ampelregierung das, was zuvor nur von AfD-Funktionären in Kneipen geäußert wurde, zur Realität: Ausweisungen, Abschiebungen, Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam werden drastisch verschärft. So wird die maximale Haftdauer der Abschiebungshaft von drei auf sechs Monate verlängert und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird die Überwachung der Handys von Asylantragssteller:innen ohne gültigen Pass erlaubt. Seenotrettung wird weiter kriminalisiert und die Wartedauer von Geflüchteten, bis sie ungekürzte Leistungen und uneingeschränkte Gesundheitsversorgung bekommen, von 18 Monaten auf drei Jahre verdoppelt.

    Regierung billigt schnellere Abschiebungen und längere Abschiebehaft

    10. April 2024: Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)

    Die lang vorbereitete und am 10. April 2024 beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) stellt die massivste Einschränkung des Asylrechts jemals dar: Asylverfahren sollen in Zukunft an Außengrenzen durchgeführt, geflüchtete Menschen dafür in Lager eingesperrt und in „sichere Drittstaaten“ abgeschoben werden. In solchen „Drittstaaten“ wie der Türkei sind Geflüchtete oft schlechten Lebensbedingungen und (nicht-)staatlicher Verfolgung ausgesetzt und müssen Kettenabschiebungen in Länder wie Afghanistan oder Syrien befürchten.

    EU-Parlament winkt GEAS-Reform durch: Stärkster Eingriff ins Asylrecht seit Gründung der EU 

    18. Juni 2024: Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien angekündigt

    Nach dem Messerangriff in Mannheim kündigte Olaf Scholz am 18. Juni 2024 an, nun auch nach Syrien und Afghanistan abschieben zu wollen. Dafür werde an einem Abkommen mit Usbekistan gearbeitet. Die Flüchtlingsorganisation UNHCR und auch das Auswärtige Amt gehen hingegen weiterhin davon aus, dass keine Region Syriens für rückkehrende Geflüchtete derzeit sicher ist.

    27. Juni 2024: Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrecht

    Nur wenige Tage später ist das Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Kraft getreten, das eine frühere Einbürgerung von Menschen ermöglicht, die bereits länger als fünf Jahre in Deutschland gearbeitet haben. Klingt schön, ist aber einmal mehr nur für diejenigen Menschen positiv, die bereits seit längerer Zeit in Deutschland erwerbstätig sind, also bereit oder gezwungen sind, sich von der deutschen Wirtschaft ausbeuten lassen.

    30. August 2024: Erster Abschiebeflug nach Afghanistan gestartet

    Am 30. August 2024, wenige Tage nachdem drei Menschen in Solingen durch einen islamistischen Anschlag ums Leben gekommen sind, hebt der erste Abschiebeflug nach der Machtergreifung der Taliban Richtung Afghanistan ab: 28 Personen werden an die islamistischen Fundamentalist:innen, die seit drei Jahren an der Macht sind, ausgeliefert. Von der Bundesregierung heißt es, dass die Aktion bereits seit Wochen geplant gewesen sei und nicht erst seit Solingen.

    10. September 2024: Vorlage eines Gesetzesentwurfs „zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems“

    Am 10. September 2024 legte die Ampel-Regierung einen neuen Gesetzesentwurf unter dem Namen „Gesetz zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems“ vor, den sie mit dem Anschlag in Solingen und dem 7. Oktober 2023 begründete: Geflüchteten kann ihm zufolge der Schutzstatus aberkannt werden, wenn sie nachweislich eine Straftat aus antisemitischen, fremdenfeindlichen und geschlechterspezifischen Motiven begangen haben sollen. Dies könnte insbesondere gegen palästinensische Geflüchtete angewendet werden, die seit Monaten für ihren Protest gegen einen Genozid, den Israel seit Oktober in Gaza verübt, immer wieder kriminalisiert werden.

    Zudem sollen Geflüchtete, die in einem anderen Staat wie z.B. Griechenland angekommen sind, also sogenannte „Dublin-Flüchtlinge”, keine oder nur noch gekürzte Sozialleistungen bekommen. Der Staat möchte zudem hunderte oder gar tausende Menschen aus Unterkünften entlassen, die in der Folge obdachlos sein werden. Der Entwurf sieht außerdem vor, dass das BAMF die neue Befugnis erhalten soll, öffentlich zugängliche Daten aus dem Internet zum biometrischen Abgleich zu nutzen.

    Abschiebungen und Überwachung – die Antwort auf Solingen?

    13. und 15. September 2024: Migrationsabkommen mit Usbekistan und Kenia

    Ein weiteres anschauliches Beispiel für die Migrationspolitik der Ampel besteht in den Migrationsabkommen, die Mitte September mit Usbekistan und Kenia und bereits im Februar mit Kolumbien geschlossen wurden: Entsprechend dem oben beschriebenen Motto „Abschieben oder Ausbeuten“ sieht das Abkommen einerseits eine Stärkung der Zuwanderung von Arbeits- und Fachkräften und andererseits schnellere Rückführungen ausreisepflichtiger Menschen vor.

    Migrationspolitik der Regierung: Zuckerbrot für Fachkräfte, Peitsche für alle anderen

    Rassistische Migrationsgesetze, die das Migrationsrecht immer weiter verschärfen, während Pflegepersonal aus dem Ausland hergelockt wird, stellen bei der Bundesregierung keine Seltenheit dar, sondern charakterisieren schon seit längerer Zeit deren Kurs. Es lassen sich zusammengefasst drei Kernpunkte erkennen, die die Migrationspolitik der Ampelregierung seit Ausruf der Zeitenwende und dem Erstarken der Faschist:innen prägen:

    1. Das Recht auf Asyl wird bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, sodass möglichst wenige kommen können. Die Grenzen werden geschlossen, Geflüchtete an die Randstaaten der EU geschickt, die „Festung Europa” wird weiter ausgebaut und seit GEAS werden Asylverfahren an den Außengrenzen durchgeführt. Geflüchtete sollen aber möglichst erst gar nicht die Grenzen der EU erreichen – dafür kooperiert man mit Drittstaaten in Nordafrika, Osteuropa und der Türkei, die man dann rasch als „sicher“ bezeichnet, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, man würde Menschenrechte mit Füßen treten (oder im Mittelmeer ertrinken lassen).
    2. Zuwanderung wird so gesteuert, dass nur diejenigen kommen, die man will. Seien es das Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder zahlreiche Migrationsabkommen mit außereuropäischen Ländern: die deutsche Regierung möchte Migration lenken und zwar so, dass nur solche erwünscht sind, die sich für ihre schlechter bezahlte Arbeitskraft oder Berufsausbildung ausbeuten lassen (also Fachkräfte) –  alle anderen nicht. Oder noch kürzer: Wer für die EU keinen Wert hat, darf vor den europäischen Außengrenzen oder in den Heimatländern sterben. Soviel zu  den immer wieder beschworenen „europäischen Werten“ und Menschenrechten. (Wer jetzt noch einen EU-Pullover trägt, sollte den schnellstmöglich verbrennen!)
    3. Die Geflüchteten, die bereits in Deutschland leben, sollen entweder schnell abgeschoben oder in den Arbeitsmarkt integriert werden. Auch Geflüchtete, die bereits hier sind, sollen entweder umgehend in den Arbeitsmarkt integriert werden oder abgeschoben werden. Maßnahmen wie der Chancenaufenthalt oder die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts sollen Migrant:innen in Berufe mit überwiegend körperlicher Arbeit, schlechterer Bezahlung und atypischen Beschäftungsverhältnissen eingliedern oder in ihnen halten. Sollten diese jedoch zu unliebsamen Mitbürger:innen werden – etwa weil sie sich für die kurdische Befreiungsbewegung engagieren oder für einen Waffenstillstand in Gaza auf die Straße gehen – heißt es dann ganz schnell „Tschüss und auf Nimmerwiedersehen“. Dafür sorgen nicht nur das Rückführungsverbesserungsgesetz, sondern auch das nach Solingen vorgeschlagene „Maßnahmenpaket” der Ampel.
    • Autorin Seit 2023. Angehende Juristin, interessiert sich besonders für Migration und Arbeitskämpfe. Alexandra ist leidenschaftliche Fußballspielerin und vermisst die kalte norddeutsche Art in BaWü.

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