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    Stellenabbau in der Industrie

    Umstrukturierungen und Krise in der Industrie lassen Kolleg:innen um ihre Arbeitsplätze fürchten. Was sind die Hintergründe, wo brennt es und wie wehren wir uns dagegen? – Ein Kommentar von Mario Zimmermann.

    Enttäuschung, Sorge, Trauer und Wut – das sind Gefühle, die viele von uns auch von der Arbeit kennen. Ein besonderer Einschnitt, den viele Arbeiter:innen erleben, ist die Kündigung. Sei es wegen eines Streits mit einer Führungskraft, Krankentagen oder Umstrukturierungen des Betriebs bis hin zu einer Betriebsschließung. Sie stellen uns vor Fragen wie: Wie verdiene ich jetzt meinen Lebensunterhalt? Und den meiner Familie? Wo finde ich wieder einen Job? Wie sicher ist dann der?

    So eine Verunsicherung verspüren gerade viele Arbeiter:innen in unterschiedlichen Branchen. Denn trotz eines Anstiegs der Zahl der Beschäftigten in Deutschland, steigt auch die Arbeitslosenquote auf aktuell 6,0 % im Bundesdurchschnitt. Doch damit natürlich nicht genug: Jeden Tag findet man neue Nachrichtenmeldungen über Betriebe und Belegschaften, deren letzte Stunde geschlagen hat.

    Betriebe sollen kaputt gespart und Massenentlassungen durchgeführt werden – alles „sozialverträglich“, versteht sich. Dabei könnten Schätzungen zufolge bis zu 270.000 Stellen allein in Zulieferer-Betrieben für die Autoindustrie bis 2030 wegfallen. In der Chemieindustrie planen ebenfalls Monopole wie BASF, Evonik und Covestro Sparprogramme auf Kosten der Arbeiter:innen.

    Neben der Industrie werden auch in Betrieben anderer Branchen Stellen abgebaut: Beim Software-Hersteller SAP betrifft es über 9.000 Kolleg:innen, davon mindestens 2.600 in Deutschland. Ebenfalls soziale Einrichtungen fallen dem Sparhammer zum Opfer, auch wenn es hier der Staat ist, der den Kommunen keine ausreichenden Gelder zu Finanzierung von Familienzentren und Jugendklubs zur Verfügung stellt.

    Überproduktion und Ukraine-Krieg

    Der Stellenabbau und die aktuelle Krisenstimmung in der Industrie haben mehrere Gründe. Dazu gehört die Überproduktion: Überproduktion entsteht gesetzmäßig im Kapitalismus. Auch wenn ungefähr berechnet werden kann, wie viel von einer bestimmten Ware verkauft werden kann, produzieren konkurrierende Unternehmen immer darüber hinaus, in der Hoffnung ihren Absatz zu vergrößern, einen höheren Marktanteil zu bekommen und Konkurrent:innen zu verdrängen. Am Ende wird mehr Ware produziert als es zahlende Kundschaft gibt, woraufhin die Produktion heruntergefahren wird und Arbeiter:innen entlassen werden.

    In der letzten Wirtschaftskrise 2019/2020 und der anschließenden Corona-Pandemie war die Industrieproduktion wegen Überproduktion und der Unterbrechung der Lieferketten deutlich eingebrochen. Die wirtschaftliche Erholung seitdem ist zäh, und der letzte Höchstand von 2017 wurde noch nicht erreicht.

    Ein weiterer Faktor sind die gestiegenen Energiepreise durch den Ukraine-Krieg: Nach einer Drosselung der Lieferung von russischer Seite und Streitigkeiten über die Zahlung für das Gas wurden im September 2022 sogar die Pipelines Nordstream 1 und 2 mit Einmischung des ukrainischen Staats gesprengt. In der Folge explodierten die Gas- und Strompreise. Energieintensive Industrien wie z.B. die Chemieindustrie oder die Stahlindustrie waren mit höheren Ausgaben konfrontiert.

    Gleichzeitig benötigte die Industrie ihr Kapital für den Umbau ihrer Produktion auf alternative Energieträger, um von importiertem Gas aus Russland unabhängig zu sein. Damit soll Deutschland nicht von dem einzigen Konkurrenten abhängig sein, gegen den es sich gerade für einen Krieg rüstet.

    Einsparungen in der Chemieindustrie

    Der Effekt auf die Chemieindustrie, eine der wichtigsten Branchen Deutschlands, war unübersehbar: Neben dem Ausbleiben von Bestellungen anderer Industriezweige, für die in der Chemieindustrie Vorprodukte und chemische Stoffe hergestellt werden, bremsen die hohen Energiekosten eine mögliche Erholung.

    In den Jahren 2022 und 2023 verzeichnete die Chemieproduktion demzufolge eine Abnahme der Produktion. Trotz der Erholung im ersten Quartal 2024 liegt die Produktion immer noch 15% unterhalb des Vorkrisenniveaus. Die aktuelle Kapazitätsauslastung der Produktion liegt bei 78,1%, es ist damit das 10. Quartal in Folge unterhalb des langjährigen Durchschnitts.

    Chemiemonopole reagierten darauf mit Sparprogrammen: BASF kündigte im Februar einen Stellenabbau von 2.500 Stellen an seinem Stammort in Ludwigshafen an. Auch für das Jahr 2024 wurde ein weiterer Stellenabbau angekündigt, noch während der erste gar nicht umgesetzt war. 1 Milliarde Euro soll jährlich eingespart werden. Die Dividende, welche die Aktionäre ausgeschüttet bekommen, bleibt indes gleich hoch: An der Börse wird gefeiert, im Werk wird gefeuert.

    Auch bei den Konkurrent:innen Evonik und Covestro wird gespart: Bei Evonik sollen vor allem in der Verwaltung 2.000 Stellen gestrichen werden, davon 1.500 in Deutschland. Der Kunststoffhersteller Covestro machte einen Tag nach dem finalen Übernahmeangebot des saudi-arabischen Ölkonzerns Adnoc einen Stellenabbau von nicht bekannter Höhe bekannt. Bis 2032 soll zumindest in Deutschland auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet werden. Stattdessen ist ein schleichender Stellenabbau mit freiwilligen Aufhebungsverträgen oder Arbeitszeitreduzierungen geplant.

    Die Chemiegewerkschaft IGBCE unternimmt währenddessen ihren Teil, um den Chemiemonopolen zur Erholung zu verhelfen: Im Juni diesen Jahres kam es zum Abschluss des neuen Tarifvertrags für Chemiearbeiter:innen. Noch vor Ende der Friedenspflicht einigte sich die IGBCE mit der Chemieindustrie auf einen Kompromiss, der trotz eines gut wirkenden Lohnplus von 6,85% in 2025 die Inflation der letzten Jahre nicht ausgleichen kann. Als Trostpflaster gibt es einen zusätzlichen freien Tag für die Mitglieder der „Streikverhinderungs”-Gewerkschaft.

    Weniger Absatz, weniger Teile

    In Deutschlands wichtigster Industrie, der Automobilindustrie, „streiken” dafür die Verkaufszahlen der erfolgsverwöhnten Automonopole Audi, VW und Mercedes. Mit einem Einbruch im zweiten Quartal von 11,3% (Audi), 5,2% (VW) und 4% (Mercedes) im Vergleich zum Vorjahresquartal bleibt die Situation weiterhin angespannt. Die Überproduktion in der Autoindustrie sorgt für eine dauerhafte Minderauslastung der Werke.

    Während zwar in den Ausbau der E-Auto-Produktion stark investiert wird, gehen die Verkaufszahlen dort deutlich zurück. Von den erhofften Zielen bleibt man weit entfernt. Hinzu kommt, dass chinesische Autobauer wie BYD mit ihren günstigeren Modellen nicht nur das Geschäft in China, dem wichtigsten Markt für Autos weltweit, dominieren, sondern auch auf den europäischen Markt drängen. Als Antwort darauf wurden von einigen EU-Ländern Strafzölle für chinesische E-Autos diskutiert. Die deutsche Autoproduktion würde darunter besonders leiden, da für sie China ein wichtiger Markt ist und Reaktionen von chinesischer Seite angekündigt wurden.

    Der Umstieg auf die E-Autoproduktion in Deutschland führt währenddessen weiter zum Stellenabbau. Die geringere Anzahl an Teilen und Komponenten, die Elektromotoren benötigen, lässt die Belegschaften von Zulieferer-Betrieben für Verbrenner-Motoren bangen. Beim Ford-Werk in Köln wurde erst im Juni die Fertigung des ersten E-Auto am Standort vom Deutschlandchef Martin Sander gefeiert.

    Trotz des massiven Stellenabbaus der letzten Jahre, welcher der Belegschaft noch in guter Erinnerung ist, wurden in einer E-Mail im Juni bereits weitere Stellenstreichungen angekündigt. Die Betriebsvereinbarung von vor anderthalb Jahren, die betriebsbedingte Kündigungen bis 2032 ausschließt, solle nachgeschärft werden, so die Manager. Prompt mobilisierten tausende Kolleg:innen zur Betriebsversammlung. Die angekündigte Stellenstreichung ist mittlerweile auf 2.300 beziffert. Alle Abteilungen am Standort, bis auf die Endmontage, sind auf dem Prüfstand.

    Von VW zur AfD?

    Bei VW im sächsischen Zwickau, der alten Produktionsstätte des Trabant, ist man beim Umstieg auf die E-Auto-Produktion schon einen Schritt weiter: Seit Anfang 2022 laufen nur noch E-Autos vom Band – neben den ID-Modellen auch die E-Modelle der Töchter Audi und Cupra. Die schwache Nachfrage nach den Modellen veranlasste das Management bereits 2023 dazu, 270 befristete Verträge auslaufen zu lassen. Nun bleiben zum ersten Mal seit der Wende die Bänder im Werk nachts stehen – die Produktion wird auf einen Zweischichtbetrieb gedrosselt.

    Ende 2025 sollen weitere 1.200 befristete Verträge auslaufen und nicht verlängert werden. Ein schwerer Schlag für die Kolleg:innen und ihre Familien. Mit den lokalen Zulieferer-Betrieben für die Produktion in Zwickau stehen weitere Existenzen auf dem Spiel. Für die zukünftige Konjunktur und wechselhafte Marktlagen sollen die Verträge der Belegschaften weiter flexibilisiert werden. Ein wichtiges Instrument dabei ist die Befristung der Verträge.

    Doch keine unserer Politiker:innen kämpfen für die von Kündigung bedrohten Arbeiter:innen. Und auch die Gewerkschaft nimmt nur in Ausnahmefällen den Arbeitskampf gegen Betriebsschließungen ernsthaft auf. Oft verhandelt sie eher über bessere Bedingungen von Sozialplänen und erfüllt damit ihre sozialpartnerschaftliche Funktion, dem Management nicht im Wege zu stehen und die schlechte Stimmung in der Belegschaft zu befrieden. Und wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, den Frust aufzufangen, wartet schon die AfD mit ihrer Hetze und Demagogie, um den Ärger über die Chefs in Wut auf Migrant:innen umzulenken.

    Alle Kolleg:innen bleiben!

    Ein Beben geht durch viele Industriestandorte und Werke: den Kolleg:innen stehen Kündigungen und der soziale Abstieg bevor. Die Reaktionen der Gewerkschaft darauf sind vielerorts verhalten. Davon darf man sich jedoch nicht bremsen lassen. Es wird umso wichtiger, nicht zum Spielball der Kapitalist:innen und ihrer Manager:innen zu werden. Den Sparprogrammen auf Kosten der Belegschaft muss gemeinsam eine klare Abfuhr erteilt werden.

    Dabei darf man sich nicht von den Spaltungsmechanismen der Kapitalist:innen vereinzeln lassen: die Stammbelegschaften müssen bleiben, Befristete sollen unbefristete Verträge kriegen und Leiharbeiter:innen unbefristet übernommen werden! Auch zwischen den Belegschaften verschiedener Standorte muss Solidarität hergestellt und in Aktionen umgesetzt werden.

    Der Kampf muss auch dem Absinken der Reallöhne gelten. Von getrübten Zahlen in den Geschäftsberichten darf man sich nicht täuschen lassen: Den Kapitalist:innen geht es nach wie vor gut, und viel Geld wird an Aktionär:innen ausgeschüttet. Etwaige Märchen, die in der kommenden Metallrunde die Belegschaften demobilisieren sollen, müssen entlarvt werden. Maximal 7% nach halbgaren Warnstreiks sind nicht genug – es braucht Organisation, Kampf und Lohnerhöhungen!

    Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 90 vom September 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

    • Perspektive-Autor seit 2023. Lieblingsthemen: Militarisierung und Arbeitskampf. Lebt und arbeitet in Nürnberg. Motto: "Practice like you've never won, play like you've never lost!" -Michael Jordan

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