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    Gerichtsurteil einstimmig – Politik und Gesellschaft gespalten

    Ein Gerichtsurteil des Obersten Gerichts könnte Israel weiter ins Wanken bringen. Ein Überblick über die bisherigen Sonderrechte der ultraorthodoxen jüdischen Bevölkerung und die Auswirkungen einer möglichen Abschaffung dieser für die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

    Vor rund einer Woche fällte das Oberste Gerichts Israels ein Urteil, welches die Regierung in Bedrängnis führt. Demnach gäbe es aus juristischer Sicht keinen Grund, dass ultraorthodoxe Juden keinen Wehrdienst leisten müssten. Während die meisten israelischen Männer und Frauen einer zwei- bzw. dreijährigen Wehrpflicht ausgesetzt waren, galt für ultraorthodoxe Jüd:innen eine Ausnahmeregelung. Diese besteht seit der Gründung Israels.

    Damals bewilligte Premierminister David Ben-Gurion den ca. 400 strenggläubigen Juden die Verweigerung des Armeedienstes für das Studium der Torah als Gegenleistung für ihre Unterstützung bei der Schaffung eines weitgehend säkularen Staates. Heute sind es jedoch zehntausende junge Männer, die statt des Wehrdienstes die Torah und den Talmud studieren.

    Ausnahmeregelung war zeitlich begrenzt

    Diese Sonderregel war aber seit jeher zeitlich begrenzt. Vor drei Monaten ist diese Vereinbarung zuletzt ausgelaufen. Seitdem verfehlte es Ministerpräsidenten Netanjahu trotz seiner Regierungskoalition mit zwei ultraorthodoxen Parteien, ein Gesetz zu verabschieden, welches die Regelungen hätte fortführen können.

    Das Gericht entschied, die staatlichen Subventionen für männliche ultraorthodoxe Juden im wehrpflichtigen Alter zu streichen. Die Generalstaatsanwältin folgte diesem Weg und beantragte, die rund 63.000 Betroffenen einzuziehen.

    Gewaltsame Proteste in Jerusalem

    Diese Entscheidung mündete in gewaltsamen Protesten tausender „Haredim” (Selbstbezeichnung streng orthodoxer Juden) in Jerusalem am vergangenen Sonntagabend. Von einem überwiegend ultraorthodoxen Viertel aus bahnten sich die Haredim, in traditionellem schwarzem Anzug gekleideten, ihren Weg in das Zentrum der israelischen Hauptstadt.

    In Jerusalem kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Unter anderem wurden Steine geworfen und ein Auto eines ultraorthodoxen Regierungsmitglieds beschädigt. Der Polizei gelang es nur mithilfe von Wasserwerfern, die gewaltsamen Proteste zu beenden. Insgesamt fünf Demonstrant:innen wurden festgenommen.

    Nicht alle Haredim lehnen Kriegshandlungen ab

    Für die Protestierenden steht der Militärdienst gänzlich im Kontrast zu ihrer frommen Lebensweise, auch weil Männer und Frauen mitunter gemeinsam dienen. Doch nicht alle Haredim entsagen dem Dienst an der Waffe. Unter dem Namen Bataillon „Netzach Jehuda” formierte sich bereits 1999 eine Einheit explizit für Ultraorthodoxe. Ausschließlich Männer können sich ihrer anschließen, religiöse Aspekte erfahren besondere Beachtung.

    In der Vergangenheit machte „Netzach Jehuda” jedoch mit Menschenrechtsverletzungen auf sich aufmerksam. In der Gruppierung vermischen sich streng religiöse Meinungen mit rechtsextremem und radikal-zionistischem Gedankengut. Mehrere Mitglieder wurden wegen der Folterung palästinensischer Gefangenen belangt. Die Vorwürfe sind so tiefgreifend, dass auch die USA Sanktionen gegen die Einheit beschloss.

    Drängt der Krieg?

    Doch das sind nicht die einzigen Probleme des Likud-Politikers. Auch aus Sicht der israelischen Streitkräfte drängt die Lage. Mitte Juni beispielsweise hat die israelische Armee offenbar selbständig eine Feuerpause beschlossen und damit für Unmut in der Regierung gesorgt.

    Einige Tage danach gab der Armeesprecher Hagari ein Interview, in dem er Zweifel äußerte, dass es Israel gelinge, die Hamas zu beseitigen. Netanjahu widerspricht ihm und verlautbart, dass die Hamas bald zerschlagen werden seien. Doch mit der eventuellen Zerschlagung der Hamas ist der Kriegszustand noch nicht beendet. Hinzukommen Auseinandersetzungen in der besetzten palästinensischen Westbank.

    Im Norden tobt bereits seit Monaten ein weiterer Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah. Der Einmarsch Israels in den Libanon wurde bereits von politischer Ebene abgesegnet.

    Die israelische Armee benötigt also zunehmend personellen Nachschub. Doch das Militär müsste ohnehin erst einen Plan ausarbeiten, um möglicherweise Tausende von Soldaten in seinen Reihen willkommen zu heißen, die sich dem Militärdienst widersetzen und deren Traditionen im Widerspruch zu einer modernen Streitmacht stehen.

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    Politische Folgen für Netanjahu

    Für Netanjahu wird die Entscheidung zur politischen Zerreißprobe. Einerseits gilt es, nicht die Kontrolle über das Militär zu verlieren, andererseits darum, die Regierungskoalition zusammenzuhalten. Für Letzteres ist seine Likud-Partei auf den ultraorthodoxen, faschistischen KoalitionspartnerVereinigtes Torah-Judentum” (VJT) und Schas angewiesen. Diese sind gegen eine Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen.

    Ein Rückzug dieser beiden Partei aus der Regierung würde wahrscheinlich Neuwahlen bedeuten. Zu seinem Vorteil fürchten sich jedoch derzeit alle der Regierungsparteien vor Neuwahlen. Grund hierfür ist, dass viele Israelis den neunmonatigen Feldzug der israelischen Regierung gegen die Palästinenser:innen nicht mehr gutheißen. Einige sorgen sich um ihre Angehörigen, die sich seit Monaten als Soldat:innen oder als Geiseln im Krieg befinden bzw. befunden haben.

    Umso ungerechter empfinden sie es, dass die Haredim (13 % der Bevölkerung) von der Wehrpflicht bisher ausgenommen waren. Dieses Empfinden erstreckt sich auf den anderen Teil der Parteien in der Regierungskoalition. Da diese neben dem Likud aus religiös-faschistischen sowie konservativ-säkularen Parteien besteht, steht Netanjahu vor der Entscheidung, entweder die säkularen oder die religiösen Koalitionspartner zu enttäuschen.

    Einen Ausweg hat er bereits gefunden: Die Regierung ist laut der Likud-Partei gerade dabei, ein Gesetz zu verabschieden, dass die Zahl der ultraorthodoxen Wehrpflichtigen erhöht und gleichzeitig die Bedeutung des Religionsstudiums anerkennt. Das könnte Netanyahu als Übergangslösung Zeit verschaffen. Doch die eigentlichen Probleme, die Kriege nach außen und die zunehmende Spannung innerhalb der israelischen Gesellschaft, sind damit noch längst nicht überwunden.

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