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      187 Jahre Tradition: Frauen- und LGBTI-Feindlichkeit auf dem Oktoberfest

      Es ist wieder Herbst, und in Bayern heißt das: Zeit fürs Oktoberfest. Es kam – wie in den Jahren davor – wieder zu einer hohen Anzahl an sexuellen Übergriffen, nebenbei geben die Oktoberfestveranstalter:innen Frauen „hilfreiche“ Tipps gegen Belästigung, Männer kriegen einen Solidaritätspreis dafür, sich nicht absolut bescheuert zu benehmen und eine dem Fest nahestehende Seite rät Homosexuellen zur Zurückhaltung auf den Wiesn’. – Ein Kommentar von Tabea Karlo

      Seit dem 17. September läuft in München das 187. Oktoberfest, eine beliebte bayrische Tradition und vor allem ein extrem gutes Geschäft, das jedes Jahr mehrere Millionen Besucher:innen nach München treibt. Auf den Wiesn’ gibt es alles in Hülle und Fülle: Musik, Essen, Alkohol und leider auch sexuelle Belästigung.

      So ziemlich seitdem das Fest existiert wird dort jedes Jahr von einer Fülle sexueller Übergriffe berichtet: von sexistischen Kommentaren über Angrabschen bis hin zu Vergewaltigungen ist alles dabei. Nur eine geringe Anzahl der Vorfälle wird angezeigt, beim letzten Oktoberfest im Jahr 2019 waren es 25, im Jahr davor 21. Dieses Jahr sind es bereits vor Festende 31 Fälle.

      Projekt “Sichere Wiesn”: Hohe Dunkelziffer

      Die Zahl steigt und die Dunkelziffer ist noch weit höher. Das zeigt sich unter anderem in den Zahlen der Aktion „Sichere Wiesn“. Im Jahr 2022 nutzen bis Ende September etwa 228 Besucherinnen das Angebot. Das sind bereits 50 Prozent mehr als in den vergangenen Jahren und das Wiesn-Spektakel ist noch nicht vorbei. 21 der Besucherinnen haben sexuelle und körperliche Gewalt auf dem Festgelände erfahren.

      Das Patriarchat zeigt sich hier ganz klassisch und offen, nicht nur in den Übergriffen selbst sondern auch im Umgang damit. So soll den Kellnerinnen zum Beispiel in Vorbereitung auf den Job geraten worden sein, gepolsterte Radlerhosen zu tragen, um sich gegen “Grabscher” zu schützen.

      Auch das Projekt „Sichere Wiesn“ selbst gibt Frauen und Mädchen auf seiner Website Verhaltenstipps, die gegen sexuelle Übergriffe helfen sollen. Darunter fällt zum Beispiel der Hinweis, dass das Bier auf dem Oktoberfest besonders stark ist und sich in einem Maß wirklich ein ganzer Liter befindet. Man soll auf K.O.-Tropfen achten, und auch der Vorschlag, sich vorher einen sicheren Heimweg zu überlegen, bleibt nicht aus.

      Patriarchale Verhaltenstipps für Frauen 

      Diese Tipps lesen sich ehrlich gesagt wie ein schlechter Scherz. Denn alle schlagen in die selbe Kerbe: Männer werden Täter, aber Frauen sollen ihr Verhalten verändern. Die Verantwortung für Missbrauch wird auf die, in der Regel weiblichen Opfer, abgeschoben. Jede Tat wird als einzelnes Vorkommnis behandelt, falls sich überhaupt jemand dafür interessiert. Über die Tatsache, dass Missbrauch sozusagen zum inoffiziellen Programm gehört und es sich sicher nicht um irgendwelche Einzelfälle handelt, wird kaum gesprochen. Jede ist für sich selbst verantwortlich und niemand für die nachhaltige Veränderung der Situation.

      Prävention gibt es kaum. Vom „Safe space“ bis zur Ermutigung zu Strafanzeigen wird vor allem auf Verfolgung der Taten im Nachhinein gesetzt. Wie häufig die Verfolgung von Anzeigen wegen Belästigung oder Missbrauch fallen gelassen wird und wie verstörend es für viele Frauen ist, ihre Missbrauchsgeschichte hunderte Male erzählen zu müssen, bis es irgendwann zu einem Urteil kommt, wird dabei geschickt verschwiegen.

      So brüstet sich auch der Polizeisprecher Oliver Barnert damit, dass es 50 Kameras auf den Wiesen gebe. So könne man Beamte gezielt einsetzen, wenn etwas auffällig sei. Auch hier wird wieder auf Verfolgung von Taten im Nachhinein gesetzt.

      Eine Person wurde allerdings nicht weniger belästigt, nur weil sie danach die Möglichkeit hat, das Ganze noch einmal auf Video anzusehen. Auch, ob die Kameras tatsächlich schon einmal erfolgreich zur Aufklärung von Übergriffen genutzt wurden, bleibt unbekannt.

      Fest steht: Videoüberwachung löst das Problem nicht, es zeichnet es lediglich auf. Das wird umso deutlicher, wenn der selbe Polizeisprecher, der vorher die Kameras bejubelt hat, äußert, dass es in seinen Augen „keine Auffälligkeiten“ gab, wenn man die Anzahl der sexuellen Übergriffe mit 2019 vergleicht. – Eine Steigerung um 20%, bevor das Fest überhaupt vorbei ist, soll „keine Auffälligkeit“ sein?

      Der dezente Charme der Homophobie

      Doch nicht nur Frauen wird die Verantwortung für Belästigung zugeschustert, auch LGBTI+, insbesondere Lesben und Schwule dürfen sich dieses Jahr über „hilfreiche“ Tipps freuen. So veröffentlichte das sogenannte „Oktoberfestportal“ einige Tipps und Verhaltensregeln für schwule Wiesn’gänger.

      Im Rahmen von vier Fragen und Antworten raten sie schwulen und lesbischen Paaren zur Zurückhaltung auf den Wiesen. Nicht jede:r habe Verständnis für eine offene homosexuelle Lebensweise. Die Paare sollten einfach darauf achten, ob sie für „Gesprächsstoff“ sorgen. Das Bierzelt sei nicht der richtige Ort, um Menschen Begriffe wie “Toleranz” und “Gleichberechtigung” zu erklären und so weiter.

      In einer anderen Frage wird Personen, die homosexuell sind, nahe gelegt, sich beim Flirten ebenfalls zurückzuhalten, bzw. das doch bitte auf die ausschließlich schwulen Wiesentermine zu beschränken. Wer hinter dem Portal steckt, ist nicht ganz klar. Laut Angaben auf der Website handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt und Netzwerk von unterschiedlichen Medien, Unternehmen, Betreiber:innen von Webseiten und Magazinen sowie Privatpersonen. Nach Angaben der Münchener Zeitung tz soll der homosexuelle Journalist und Aktivist Bernd Müller die FAQ verfasst haben.

      Ähnlich dreist wie bei den Frauen gibt es hier eine Täter-Opfer-Umkehr. Täter kommen ungeschoren davon, während Menschen nahe gelegt wird, ihre sexuelle Orientierung zu verstecken, um sich zu schützen. Die Aussage wird jedoch, entgegen anderslautender Meinungen, auf keinen Fall besser oder fortschrittlicher, nur weil sie von jemandem getätigt wurde, der selbst betroffen ist.

      Nachdem bekannt wurde, dass die Tipps, die dort gegeben werden, ja doch eher „umstritten“ sind, setze das „Oktoberfestportal“-Team einen kleinen Anteaser davor. In dem es betont, wie wichtig eine „lebendige Diskussion mit konträren Meinungen“ ist. An dieser möchten sie sich allerdings nicht weiter beteiligen, schließlichisei man mitten im Wiesn’-Geschäft und da habe man keine Zeit für langweilige Presseanfragen.

      Abschließend wird dann noch einmal betont, dass das Ganze weder „dringend noch tagesaktuell“ sei. Eine spannende Aussage, der die homosexuellen Wiesenbesucher:innen, die grade angefeindet werden, weil sie es wagen, sich in der Öffentlichkeit zu küssen, sicher widersprechen würden.

      Seit wann ist Zivilcourage männlich?

      Doch keine Sorge! Wir sind noch nicht am Ende, alle diese Erfahrungen werden noch ein Mal abgerundet von einer besonders tollen Neuigkeit: Gestern wurde endlich der „Wiesngentleman“ gekürt! Der Preis für Zivilcourage, auf den wir alle gewartet haben!

      Der „Wiesngentleman“ wird von „condrobs“ vergeben, einem bayrischen Träger, der unter anderem Suchtprävention, Kinder- und Jugendhilfe sowie Hilfe für Geflüchtete anbietet. Der Hauptpreis ist ein 250-Euro-Gutschein für ein „Wiesenoutfit“ und eben der Titel „Wiesngentleman“.

      Dieses Jahr ging der Preis an einen Mann, der 2017 gemeinsam mit seiner Freundin auf dem Oktoberfest unterwegs war. Ihnen fiel ein junger Mann auf, der mit dem Kopf auf dem Tisch lag. Nachdem er auf mehrmaliges Anstupsen nicht reagierte, wurde beiden klar, dass er dringend medizinische Versorgung braucht. Gemeinsam brachten sie ihn zum Sanitätsdienst vor dem Festzelt.

      Nun dürfte das Ganze mindestens zwei Fragen aufwerfen: Warum wurde nur der Mann gekürt? Und warum gibt es überhaupt einen Zivilcourage-Preis, der nur für Männer ausgeschrieben wird?

      Vor dem Hintergrund aller anderen Ereignisse dieses Oktoberfestes bekommt das Ganze einen ziemlich bitteren Beigeschmack: Es ist, ganz offen gesagt, doch ziemlich daneben, wenn man Frauen und LGBTI-Personen, die auf dem Oktoberfest um ihre Sicherheit bangen müssen, alleine lässt und im gleichen Atemzug dann Männer – nach einem selbstverständlichen Akt der Nächstenliebe, den sie auch noch mit ihrer Freundin gemeinsam getätigt haben – alleine den Helden in Lederhosen mimen dürfen.

      • Perspektive-Autorin seit 2017. Berichtet schwerpunktmäßig über den Frauenkampf und soziale Fragen. Politisiert über antifaschistische Proteste, heute vor allem in der klassenkämperischen Stadtteilarbeit aktiv. Studiert im Ruhrpott.

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