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    AfD-Parteitag: wie ist die Geostrategie der Faschist:innen zu verstehen?

    Auf ihrem Parteitag in Essen diskutiert die AfD auch über eine stärkere Anbindung Deutschlands an Russland und China. Außerdem fordert sie eine „andere” EU. Führende Ökonomen widersprechen und sehen große Risiken für den deutschen Kapitalismus. Dieser geostrategische Schlagabtausch innerhalb der deutschen Bourgeoisie ist nicht neu und umfasst längst nicht nur das ultrarechte Lager.  — Ein Kommentar von Thomas Stark.

    „Der ‚Kalte Krieg‘ ist vorbei. Die USA bleiben unser Partner. Russland soll es werden.“ — so heißt es im Grundsatzprogramm der AfD. Auf ihrem Parteitag in Essen diskutiert Deutschlands ultrarechte Partei an diesem Sonntag auch über verschiedene Resolutionen zur Außenpolitik. Diese haben heftige Reaktionen seitens führender deutscher Ökonomen ausgelöst. Konkret geht es dabei etwa um eine geforderte Neuordnung der EU als „Bund europäischer Nationen“ und eine stärkere Annäherung Deutschlands an Russland und China.

    Resolutionen fordern außenpolitische Neuorientierung Deutschlands

    So fordert ein Resolutionsentwurf des AfD-Politikers Matthias Moosdorf, der von Björn Höcke unterstützt wird, eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik: „Eine zunehmende Sanktions- und Kriegspolitik, ausgehend von Brüsseler Vorgaben, schadet unseren Gesellschaften und Europa als Wirtschaftsstandort“, heißt es etwa darin. Gemeint sind vor allem die Sanktionen gegen Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs.

    Die gerade im Amt bestätigte AfD-Vorsitzende Alice Weidel unterzeichnete wiederum ein Papier, in dem ebenfalls die Sanktionspolitik gegenüber Russland in Frage gestellt wird. Zudem fordern die Unterzeichner:innen eine stärkere Emanzipation Deutschlands von der US-Außenpolitik und eine Verbesserung der Beziehungen zu China: „China ist für uns nicht Rivale, sondern Partner“, so das Papier.

    Weidel hatte sich in einer Parteitagsrede am Samstag bereits zur Ukraine-Frage geäußert und erklärt, zu den Interessen Deutschlands und Europas zähle, „dass die Ukraine nicht zur Europäischen Union gehört und zu Europa“.

    Eine dritte Resolution unter dem Titel „Europa neu denken“ will wiederum „dirigistische Großprogramme der EU“ wie den „Green Deal” beenden und die EU in einen „Bund europäischer Nationen“ als „Wirtschafts- und Interessensgemeinschaft souveräner Staaten“ umwandeln, in dem die Nationalstaaten wieder mehr eigene Entscheidungen treffen sollten.

    Auf der Linie der Neuen Rechten

    Die in den Resolutionen vertretenen Positionen sind nicht neu, sondern liegen auf der Linie jahrzehntealter ideologischer und geostrategischer Vorstellungen der sogenannten „Neuen Rechten“ in Deutschland. In deren politischer Tradition stehen auch große Teile der AfD. Die Neue Rechte hält die „europäische Zivilisation“ hoch, die anderen Zivilisationen angeblich überlegen sei und sich unter anderem durch besondere Leistungsorientierung auszeichne. Zugleich vertritt sie das Konzept eines „Ethnopluralismus“, das ethnisch homogene Staaten und eine Anpassung der Staatsgrenzen an die Siedlungsgebiete der Völker anstrebt.

    Auf die konkrete Fragestellung übersetzen kann man das in etwa wie folgt: Anstatt einer Europäischen Union mit zentralen Institutionen, in denen die großen Nationalstaaten Frankreich, Italien und andere ihren Einfluss teilweise auch gegen deutsche Interessen geltend machen können, wollen die deutschen „Ethnopluralisten“ lieber eine Schwächung der Nationalstaaten zugunsten kleinerer, ethnisch homogener Einheiten, z.B. in Form von Autonomiegebieten. Deutschland ist davon in der Regel ausgenommen.

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    Dies ist wiederum eine Strategie, die der deutsche Imperialismus in der Geschichte immer wieder angewandt hat, etwa durch die Protektion deutschsprachiger Minderheiten in anderen europäischen Ländern wie Tschechien, Rumänien und Italien, aber auch durch die Unterstützung anderer separatistischer Bewegungen wie etwa im früheren Jugoslawien. Was die Neue Rechte ideologisch begründet, ist für das deutsche Kapital – nicht mehr und nicht weniger – eine Strategie zur Sicherung der eigenen Hegemonie in Europa, wobei der Schwerpunkt des strategischen Interesses dabei schon immer auf Mitteleuropa (einschließlich der Benelux-Staaten, Polens, Tschechiens, der Slowakei, Österreichs, Ungarns, Rumäniens und des nördlichen Balkans) liegt.

    Eine solche Strategie könnte heute im ersten Schritt darauf hinauslaufen, eine Reihe der Institutionen der EU als Ballast abzuwerfen und hierdurch die deutsche Führung in Mitteleuropa zu stärken. Diese soll wiederum der Beförderung Deutschlands zur Weltmacht dienen – und dies geht über kurz oder lang nur gegen die Hegemonie der USA und nur im Bündnis mit anderen großen eurasischen Mächten wie Russland oder China.

    Die AfD ist die Partei, die eine solche Orientierung heute am deutlichsten und relativ einheitlich vertritt. Widersprüche gibt es dort eher in der Frage, an welche äußere Macht man sich wie stark anlehnen will. Nicht umsonst wird Alice Weidel — die über das chinesische Rentensystem promovierte, in China gelebt hat und Chinesisch spricht — von chinesischen Medien teilweise geradezu hofiert: „Aufgrund ihrer Lebenserfahrung in China ist Weidel eine der wenigen Politikerinnen (…), die China objektiv sehen können.“

    Heftiger Widerspruch von Ökonomen

    Die AfD vertritt mit ihrer radikalen Orientierung zur EU, Russland und China heute eine Minderheitenposition innerhalb der deutschen Bourgeoisie. Die herrschende Position ist stattdessen, die EU mitsamt ihren zentralen Institutionen weiter aufrechtzuerhalten — schließlich hat sich Deutschland dort spätestens mit der Durchsetzung der Sparpolitik gegenüber den südeuropäischen Ländern ab 2010 zur relativ unangefochtenen Führungsmacht entwickelt.

    Der Ökonom Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) etwa wirft der AfD deshalb mangelnde wirtschafts- und außenpolitische Kompetenz vor: „Die Behauptung, Deutschland gewinne an Souveränität, indem es Europa schwäche und wichtige Kompetenzen auf nationale Ebene verlagert, ist naiv und grundfalsch.“ Spätestens mit der Erfahrung des Brexit in Großbritannien „sollte jeder den Irrweg der von der AfD geforderten Politik der nationalen Abschottung verstanden haben“. In dieselbe Richtung argumentiert auch der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, der zudem die Notwendigkeit einer klaren Haltung in der Ukraine-Frage betont: Dabei gehe es „auch um die Stabilisierung der Weltordnung“.

    Andere Rechtsparteien wollen an USA-Orientierung festhalten

    Zur heutigen Weltordnung gehört auch die Einordnung Deutschlands und der anderen Staaten Europas in ein transatlantisches Bündnis mit den USA. Mit der Infragestellung dieses Bündnisses, die heute am konkretesten in der Ukraine-Politik zum Ausdruck kommt, erhält die AfD ebenfalls heftigen Widerspruch. Dieser umfasst aber nicht nur Ökonom:innen und das klassische bürgerliche Lager, sondern auch die wichtigsten Kräfte der europäischen Ultrarechten.

    Die Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) im EU-Parlament, in der unter anderem das französische Rassemblement National (RN) und die italienische Lega vertreten sind, hatte die AfD-Fraktion im Mai, kurz vor der Europawahl, aus den eigenen Reihen ausgeschlossen. Während es dabei vordergründig um diverse Skandale des AfD-Spitzenkandidaten zur Europawahl ging, ordnete Götz Kubitschek, ein AfD-naher neurechter Vordenker, den Ausschluss wohl nicht unzutreffend als außenpolitische Grundsatzentscheidung ein: „Der Ausschluss der gesamten AfD-Delegation aus der ID-Fraktion im EU-Parlament erfolgte auf Betreiben Marine Le Pens und ist eine Entscheidung für ein transatlantisches und gegen ein mitteleuropäisches Europa-Konzept. Le Pen wurde in den vergangenen Monaten und Wochen unter immensen Druck gesetzt — nun hat sie sich entschieden: für einen US-amerikanischen Ableger, der in Gestalt einer konservativen Großfraktion nach dem 9. Juni (der Europawahl) in Brüssel konstituiert werden könnte.“

    Im selben Artikel in der neurechten Zeitschrift Sezession bezeichnete Kubitschek insbesondere Viktor Orbans Ungarn als „Knotenpunkt, von dem aus den konservativen nationalbewußten Kräften Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ‚zwischen den Blöcken‘ unmöglich gemacht werden soll“ — im Hintergrund würden hier die USA die Fäden ziehen.

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    Stabilisierung der alten oder Schaffung einer neuen Weltordnung?

    Bei der AfD-Positionierung zur Außenpolitik geht es letztlich also um die Frage, ob Deutschland sich weiter für die Stabilisierung der bisherigen US-geführten Weltordnung einsetzen und im Rahmen des transatlantischen Bündnisses auch die EU in ihrer bisherigen Form aufrecht erhalten soll. Oder ob Deutschland aktiv für die Schaffung einer neuen Weltordnung eintritt, in der es sich, gestützt auf die Hegemonie über Mitteleuropa, mit einer anderen eurasischen Großmacht verbündet.

    Die europäischen Ultrarechten in Frankreich und Italien sind offenbar zu dem Schluss gekommen, dass ein gemeinsames Eintreten mit der AfD gegen die EU und für eine Annäherung an Russland unter den heutigen Bedingungen vor allem Deutschland nützen und ihren nationalen Interessen schaden würde — oder sie haben sich dem Druck aus Washington angepasst, um an die Regierung zu kommen.

    Umgekehrt gibt es aber auch jenseits der AfD politische Kräfte in Deutschland, die außenpolitisch für eine tendenzielle Abkehr von der transatlantischen Ordnung eintreten. Dies betrifft nicht nur das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW), das heute als einzige Partei jenseits der Ultrarechten offensiv für eine Wende in der Ukraine-Politik eintritt. Vielmehr sind z.B. die Russland-Netzwerke innerhalb von SPD und CDU/CSU noch lange nicht tot, und dem BSW könnte in der heutigen Gemengelage vor allem die Rolle zukommen, diese Netzwerke z.B. im Rahmen von Koalitionsverhandlungen auf Länderebene wieder in die Offensive zu bringen.

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    Schließlich liegen die letzten deutschen Initiativen zu einer Abkehr vom transatlantischen Bündnis noch nicht lange zurück: Unter der SPD-geführten Regierung von Gerhard Schröder hatte Deutschland seine Handelsbeziehungen zu Russland und China massiv intensiviert und sich im Bündnis mit Paris und Moskau — zumindest öffentlich — gegen den Irak-Krieg gewandt. Schröder wurde später als Multi-Aufsichtsrat in russischen Energiekonzernen und bei den Pipeline-Projekten „Nordstream 1” und „2” zur Symbolfigur der deutschen Annäherung an Russland. Sogar AfD-Chef Chrupalla lobte ihn kürzlich für seine Russlandpolitik.

    Was medial also als rein interne AfD-Diskussion dargestellt wird, ist in Wahrheit eine strategische Schlüsseldiskussion innerhalb der deutschen Bourgeoisie. Es geht um die Frage, wie sich Deutschland im anstehenden Kampf um eine neue Weltordnung aufstellen soll: Ob als transatlantische oder eurasische Macht. Und wie Deutschland bis dahin konkret versuchen kann, sich zwischen den Blöcken einzurichten und von den Widersprüchen zwischen ihnen zu profitieren.

    Nur über eines sind sich heute alle einig: Deutschland muss wieder kriegsfähig werden. Denn auch die AfD will die Bundeswehr umfangreich aufrüsten und fordert die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht.

    • Perspektive-Autor seit 2017. Schreibt vorwiegend über ökonomische und geopolitische Fragen. Lebt und arbeitet in Köln.

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