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    „Ich war schon mal da – auf Google-Maps“: Skandal-Gespräch der SPD-Essen mit bedrohter Litterode-Siedlung enthüllt

    Seit mehreren Monaten kämpfen die Mieter:innen aus der „Litterode“ um ihr Zuhause. Die Häusersiedlung in Essen-Leithe soll vom städtischen Wohnungskonzern Allbau komplett abgerissen werden. Die Bewohner:innen, die aufgrund der besonderen Siedlungsgeschichte stark miteinander verbunden sind, trifft das unvorbereitet – sie haben sich entschlossen, für ihr Zuhause zu kämpfen. Perspektive hat rekonstruiert, wie die SPD-Spitze von Essen und ein Unternehmensvertreter mit den Bewohner:innen in einem „Klärungsgespräch“ umging.

    Die Sonne scheint, Kinder toben mit ihrem Laufrad durch die Vorgärten, fast 20 Erwachsene tummeln sich vertraut in einer Gruppe im Vorgarten – die „Litterode” ist eine ganz besondere Siedlung. Es sind der herzliche Umgang und die Gemeinschaft der Bewohner:innen, die dieses Gefühl vermitteln. Dies wurzelt u.a. in der jahrzehntelangen Historie der Siedlung.

    Die Litterode wurde bereits 1934 erbaut und ist eine alte Zechensiedlung. Später wurde sie zu einem Quartier, in dem Notunterkünfte für Obdachlose, Geflüchtete und Wohnungen für mittellose Familien Platz finden sollten. In den 80er Jahren sollte sie abgerissen werden. Damals packte die ganze Siedlung mit an, um den Abriss zu verhindern. Die Bewohner:innen machten einen Deal mit der Stadt: wenn sie helfen, die Häuser zu renovieren, dann dürfen sie bleiben.

    Sie deckten Dächer, dämmten Fassaden und vieles mehr. Schließlich wurde die Litterode zur Mietsiedlung, und die ansässigen Bewohner:innen durften bleiben. Viele leben bis heute dort, einige Familien schon in dritter Generation. In dem Teil der Litterode-Siedlung, in dem heute noch die alten Zechenhäuser stehen, wohnen rund 60 Personen. Nun sollen sie ausziehen – ihnen wurde gekündigt.

    Schock-Ankündigung für die Bewohner:innen

    Im letzten Jahr hatte sich der Wind für die Bewohner:innen gedreht: die Siedlung wird von der Stadt Essen an den städtischen Wohnungsbaukonzern „Allbau” verkauft. In einem ersten Brief nach der Übernahme – für den sich der Allbau später „entschuldigen“ wird – wird den Bewohner:innen versichert, dass sich nichts ändern werde.

    Umso mehr fallen die Bewohner:innen aus allen Wolken, als ihnen wenige Monate später auf der allerersten und einzigen Mieter:innenversammlung mitgeteilt wird, dass die ganze Siedlung abgerissen werden soll – und ihnen nur wenige Monate in ihrem Zuhause bleiben.

    Tränen fließen, Leute verlassen den Saal, von Zustimmung der Mehrheit keine Spur. Trotzdem wird der Allbau-Konzern später in einer Mitteilung auf seiner Website behaupten, die Kund:innen seien zwar sehr betroffen, viele von ihnen würden die Pläne aber „begrüßen“ und wüssten die „frühzeitige Information zu schätzen“. Von „frühzeitig“ – da sind sich alle, mit denen Perspektive sprechen konnte, einig – kann nicht die Rede sein.

    Eine böse Vorahnung hatten viele schon, nachdem die Stadt Essen jahrelang niemanden mehr in leer werdende Häuser einziehen und diese gänzlich verrotten ließ. Hinter verschlossenen Türen hatte die Stadt bereits seit dem Jahr 2021 über den Abriss diskutiert und ihn Anfang 2023 in einer nicht öffentlichen Sitzung beschlossen. Die angeblichen Berechnungen, die zeigen sollen, dass die Sanierung nicht „wirtschaftlich“ sei, liegen bis heute nicht vor. Die Matrix, die online sein müsste, ist leer.

    Litterode soll bleiben

    Seit der „Mieterversammlung“ regt sich Widerstand: die Mieter:innen diskutieren und beginnen gemeinsame Aktionen zu planen. Die Stimmung ist kämpferisch, und sie sind sich einig: Die Litterode soll bleiben, und sie werden darum kämpfen. Unterstützt werden sie dabei von Aktiven des Solidaritätsnetzwerks Essen. Die Initiative, die sich regelmäßig im „Sozialen Zentrum Phillip Müller“ in Essen trifft, bringt einige Erfahrung im solidarischen Kampf um Wohnraum ein.

    Die Beharrlichkeit und öffentlichen Aktionen der Bewohner:innen zeigen schnell Erfolg: die Parteien, die am Abrissbeschluss beteiligt waren, wollen nun ihr Image aufpolieren. Wochenlange Briefwechsel folgen. Doch gerade durch diese müssen die Bewohner:innen immer wieder schmerzlich erleben, wie sehr Politiker:innen auf sie herabschauen.

    Besonders zeigt das wohl eine Email der örtlichen Fraktionsvorsitzenden der CDU-Fraktion, Stefanie Kuhs, an einen Bewohner, den Perspektive Online einsehen durfte: „Nach all meinen Erfahrungen und den Gesprächen mit vielen Mitmenschen in Leithe kann ich dem Abriss nur zustimmen. Ich kann ihren Unmut verstehen und auch, dass sie dafür kämpfen, aber ich sehe diese Siedlung als einen Ort an, der dem gesamten Stadtteil von Leithe noch nie gut getan hat“. Auf Perspektive-Nachfrage hin erklärte sie, sie habe dem Gesagten „inhaltlich nichts hinzuzufügen”.

    Perspektive hat mit einem Großteil der Mieter:innen aus der Litterode, die ausziehen müssen, sprechen können. Sie alle geben an, nie mit Stefanie Kuhs in Kontakt gewesen zu sein, wohl aber wohne eine gute Freundin von ihr nebenan in einem Neubau.

    Die SPD bereit zum Gespräch – hinter verschlossenen Türen

    Im Mai stimmen SPD-Politiker:innen dann einem Gespräch mit den Menschen aus dem Viertel zu, unter einer Bedingung: keine Presse. Mieter:innen aus dem Viertel, die das nicht mitbekommen haben, laden aus Versehen die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) ein. Sie muss gehen, sonst gäbe es kein Gespräch. Doch was dann hinter verschlossenen Türen gesagt wird, gehört an die Öffentlichkeit – darin sind sich viele Bewohner:innen mittlerweile einig.

    Über das Gespräch vom 29. April 2024 und die dort getätigten skandalösen Aussagen konnte Perspektive mit rund einem Dutzend der anwesenden Personen sprechen – darunter Bewohner:innen wie die Familien Bolduan und Becker sowie Aktive des Solidaritätsnetzwerks Essen, die ebenfalls dabei waren –  so konnte das Gespräch rekonstruiert werden.

    „Na, dann verdiene ich ja auch wenig“

    Nachdem die Presse weg geschickt wurde, formiert sich ein Kreis: Frank Müller – seines Zeichens Vorsitzender der SPD Essen und Landtagsabgeordneter in NRW – übernimmt die „Moderation”. Das Gespräch beginnt mit einer kurzen Vorstellungsrunde, dann folgen erst einmal vor allem Vorträge von Müller und dem Allbau-Prokuristen Samuel Šerifi. Er soll eigentlich Lösungen vermitteln.

    Das Einzige, was Šerifi an diesem Tag vermitteln wird, besteht darin, dass er nicht vorhabe, auf die Bewohner:innen zuzugehen. Der Abriss wird als gesetzt dargestellt. Er sieht sein Werk als getan an. Man habe ja bereits versucht, den Bewohner:innen Wohnungen zu vermitteln, außerdem könnten sich diejenigen, die für einen „Wohnberechtigungsschein“ (WBS) berechtigt seien, ja auf die neuen Wohnungen bewerben. Sie würden dann bevorzugt beurteilt.

    Was nett klingt, wird von einigen als Taschenspielertrick wahrgenommen. Šerifi weiß bereits, dass viele der Bewohner:innen mit ihrem Gehalt knapp über der WBS-Grenze liegen, sie haben das bereits in Briefen mitgeteilt. Als ein Bewohner das Ganze vor Ort noch einmal vorrechnet, wird das von Müller harsch kommentiert: das eigene Gehalt zu diskutieren, sei „eine absolute Frechheit“. Müller bestreitet auf Nachfrage, dass diese Worte gefallen seien.

    Sein Kollege, Philipp Rosenau, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender und planungspolitischer Sprecher, versucht unterdessen immer wieder, die Bewohner:innen gegeneinander aufzuwiegeln: Wer nicht WBS-berechtigt sei, der solle Platz machen für Bedürftige. Indirekt unterstellt er den Bewohner:innen damit immer wieder, sie würden sich nicht genug für die Gemeinschaft interessieren bzw. seien nicht arm genug, um eine Berechtigung zu haben, weiter in der Litterode zu wohnen.

    Auf das eigene Rechenbeispiel des Bewohners folgen Kommentare wie: „Na, dann verdiene ich ja auch wenig.“ Damit soll wohl angedeutet werden, dass sich Rosenau in einer ähnlichen Gehaltsklasse befindet. In Anbetracht dessen, dass es sich beim Bewohner um einen Handwerker handelt, der gerade eine Fortbildung gemacht hat, bei Rosenau hingegen um einen qualifizierten Akademiker, der einen „Master of Science” im Bereich Märkte und Unternehmen hat, scheint das eher weit weg von der Realität und wirkt zynisch.

    Schriftliche Garantien dafür, dass Bewohner:innen tatsächlich einen Platz bekommen, wenn sie WBS-berechtigt sind, gibt es bis heute nicht. Und das, obwohl nach der Sanierung in den 80ern den Bewohner:innen von der Stadt lebenslanges Bleiberecht versprochen wurde. Wohnungsangebote sind tatsächlich an manche Bewohner:innen rausgegangen, haben jedoch preislich, platz- und ortstechnisch in vielen Fällen wenig mit dem aktuellen Bedarf zu tun. Während Teile der Betroffenen sie aus Not oder Sorge angenommen haben, haben andere noch gar keine Angebote bekommen.

    Auszug für viele keine Option

    Mehrere Familien in der Litterode kümmern sich um ihre Angehörigen. Als sie ansprechen, dass sie dafür Wohnungen benötigen, die nah beieinander liegen, wird versucht, das zu entkräften: Wenn sie bei der Arbeit sei, dann könne sie ja ohnehin nicht schneller da sein als der Krankenwagen, entgegnet z.B. Frank Müller auf den Einwand einer Bewohnerin. Auf die Erwiderung, dass es ja gerade zahlreiche Nachbar:innen gäbe, die bei der Pflege unterstützten und in der Vergangenheit bereits Schlimmeres verhindert hätten, kommt nichts mehr. In einer Antwort an Perspektive bestreitet der Politiker, sich so geäußert zu haben. Eine Lösung dafür müsse sowieso die Allbau finden.

    Das geringe Wissen über die tatsächliche Lage vor Ort verwundert die Bewohner:innen nicht: Die dem Ratsbeschluss zu Grunde liegende Analyse der Stadt beinhalte beispielsweise, dass die Häuser baufällig seien. Die Bewohner vermuten, dass sie gemacht wurde, ohne je eines der bewohnten Objekte von innen gesehen zu haben. Bisher wird die Analyse nicht freigegeben. Jahrelang hat sich die Stadt zudem geweigert, die Öfen in den Häusern durch umweltfreundlichere Heizungen auszutauschen.

    Dass die Politiker keinen wirklichen Einblick in die Lage der Siedlung haben zeigt etwa Rosenau ganz offen mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er sei sehr wohl schon mal vor Ort gewesen – „mit Google-Maps“. Lustig findet den arroganten Kommentar außer ihm und seinen Parteikolleg:innen niemand. Eine Nachfrage von Perspektive zu seinen Aussagen lässt Rosenau unbeantwortet.

    Auch darüber hinaus entpuppt sich das Gespräch als Fiasko: SPD-Vorsitzender Müller nimmt als selbst ernannter Moderator vor allem sich selbst das Wort, außerdem sprechen v.a. Šerifi und Rosenau. Wozu die restlichen drei oder vier SPD-Politiker:innen dabei sind, hat keine:r der Anwesenden so genau verstanden. Sie hüllen sich die meiste Zeit in betretendes Schweigen.

    Müller, Rosenau und Šerifi halten dann abwechselnd minutenlange Monologe und schaffen es zugleich, die Bewohner:innen und wenigen Gastzuhörer:innen zu unterbrechen oder anzugehen, wenn die mal ein Wort dazwischen bekommen. Fragen werden in Politiker-Manier umschifft, teilweise sogar zurück „in die Runde“ gegeben, anstatt sie selbst zu beantworten.

    Der planungspolitische SPD-Politiker Rosenau wird mehrfach nach dem Grund gefragt, warum die Stadt jahrelang auf die Sanierung der Häuser verzichtet und aktiv Leerstand gefördert habe, in dem sie Häuser nicht weiter vermietete. Als er die Frage nicht mehr ignorieren kann, schaut er einen Gast, eine Aktivistin des Solidaritätsnetzwerks, herausfordernd an: wenn sie wolle, dass die Siedlung bestehen bleibt, solle SIE ihm doch beantworten, wie das gehen soll. Auch die Frage, warum die Stadt keinerlei Modernisierung organisierte, kann er nicht beantworten.

    Als die Bewohnerin Hevres Becker es wagt, infrage zu stellen, dass die energetischen Sanierungen der einzige Grund für den Abriss seien, versucht Šerifi sie als Klimawandel-Leugnerin darzustellen. Mit so jemandem brauche er gar nicht zu diskutieren. Dass Frau Becker nicht an den Klimawandel glaubt, hatte sie jedoch zuvor in keinster Weise geäußert.

    Als „Privatmann“ könne man den Unmut ja verstehen

    Zwischendurch werden von Šerifi und Müller auch mal Krokodilstränen verdrückt. Beide äußern: als „Privatmann“ könne man den Unmut ja verstehen. Allerdings müssten die Bewohner:innen auch mal ans „Gemeinwohl“ denken. Schließlich baue man bezahlbaren Wohnraum. Dass man für bezahlbaren Wohnraum eines der günstigsten Viertel Essens erst einmal abreißt, scheint für sie keinen Widerspruch darzustellen.

    Die eigene Rolle und Verantwortung wird rundum zurückgewiesen, persönlich sei man bei dem Beschluss ja nicht dabei gewesen. Es klingt fast so, als habe die SPD mit dem Beschluss nichts zu tun. Eine andere Bewohnerin stellt das richtig: Die Partei war da, nur die Einzelperson nicht. „SPD bleibt SPD“, sagt sie. Auf Perspektive-Nachfrage hin versucht SPD Essen-Chef Müller dann eine andere Verteidigungslinie: die Entscheidung für den Abriss habe nicht die SPD getroffen, sondern die Eigentümerin Allbau. Offensichtlich soll sie nun für die Entscheidungen des Rats herhalten. Allbau wiederum äußert sich jedoch auf eine Presseanfrage hin nicht.

    Mündlich wird im Gespräch Ende April noch die Zusicherung gemacht: Wer für Oktober gekündigt sei, aber bis dahin keine Wohnung gefunden habe, der würde nicht sofort rausgeworfen. Schriftlich wird das nicht bestätigt. Stattdessen gibt’s die zusätzliche Versicherung: Wer dann nicht gehen wolle, der werde eben geräumt. Müller leugnet auch dies im Nachhinein, doch Aktive des Solidaritätsnetzwerks und Bewohner:innen als Zeug:innen sind sich sicher: es wurde unmissverständlich mit Räumung gedroht.

    Bewohner:innen bereit zu kämpfen

    Das Gespräch lässt die Bewohner:innen fassungslos zurück. Hevres Becker wohnt mit ihrer Familie schon mehrere Jahrzehnte in der Litterode, ihre Eltern sind als Geflüchtete nach Deutschland gekommen und in die Siedlung gezogen, in der sie heute noch gemeinsam mit ihnen, ihren zwei Kindern und ihrem Mann lebt: „Ich habe das Treffen als absolut erniedrigend empfunden, nachdem ich gemerkt habe, in welche Richtung sich das Gespräch drehte. Anstatt dass sich die SPD unsere Sorgen und Ängste anhört, haben die sich ganz klar auf die Seite vom Allbau gestellt und uns noch als Unmenschen dargestellt, die nicht an das allgemeine Wohl denken“, so Becker gegenüber Perspektive Online.

    Die Krisensitzung stehe überhaupt nur beispielhaft für den Umgang, den sie in den letzten Monaten erleben mussten. Im Gespräch mit Perspektive äußert eine enttäuschte und zornige Bewohnerin jedoch, man lasse sich „nicht unterkriegen“. Im Gegenteil, man wolle nun umso mehr um sein Zuhause kämpfen. Für die meisten Bewohner:innen ist klar: die Litterode soll bleiben.

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