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    Ostdeutsche Jugend: Unverstanden? Demokratieunfähig? Oder einfach dumm?

    34 Jahre Tag der Deutschen Einheit und das ewige Erzählen von „der Osten tickt anders“ geht weiter. Stimmen tut das schon, doch viele finden falsche Antworten. Zeit, ein wenig Licht ins „Dunkeldeutschland“ zu bringen und Hoffnung zu schaffen. – Ein Kommentar von Konstantin Jung.

    „Warum tickt der Osten so anders?“ – eine Schlagzeile, die uns so oder in einer ähnlichen Form in der Zeit um die Landtagswahlen dieses Jahr quasi überall erschlagen hat. Die faschistische AfD geht dieses Jahr im Osten an den Urnen als klarer Sieger hervor und jedes noch so furztrockene Nachrichtenportal fragt sich, was da denn jetzt eigentlich los ist, bei den Ossis da drüben. Und dann noch bei der Jugend? Eins steht fest: Sie ticken irgendwie „anders“, die alten Bundesländer ticken währenddessen scheinbar „normal“.

    Manche machen strukturelle Diskriminierung durch die „westdeutsche Mehrheitsgesellschaft“ verantwortlich, für andere ist es die ganze Umstrukturierung im Leben der Ossis. Ein CDU-Politiker sagt, der Osten sei nie in der Demokratie angekommen, laut der taz sind die frustrierten Ossis einfach selbst schuld.

    Sie alle behandeln ohne Frage – mal mehr mal weniger – wichtige und interessante Themen. Um den tatsächlichen Grund für die zahlreichen Unterschiede dribbeln sie aber trotzdem herum. Doch bei all dem berechtigten Hass gegenüber derartig stumpfen und bevormundenden Schlagzeilen startet der Erkenntnisprozess doch mit der Feststellung: Ja, der Osten tickt anders.

    Man wächst hier anders auf

    Klar ist, dass die Wiedervereinigung kein „Friede, Freude, Eierkuchen“-Moment für alle war. Und so laufen Leute, die sich heute fragen, warum denn 34 verdammte Jahre nach der ach so glücksbringenden Wende immer noch über das leidige Ost-West-Thema gesprochen wird, komplett an der Realität vorbei.

    Deutsche Einheit: Friede, Freude, deutsche Nation?

    Wir können über ausverkaufte Großbetriebe, über die Vernichtung von Wohnraum, über niedrigere Löhne, über abgeschaffte Frauenrechte sprechen. Und auch für die Ost-Jugend gibt es in den 2020ern noch viele Besonderheiten: Die Jugendarbeitslosigkeit ist in den neuen Bundesländern beinahe doppelt so hoch wie in den alten, und besonders in der ostdeutschen Provinz packen junge Menschen ihre Koffer und ziehen in die nächste Großstadt.

    Jetzt lasst mich doch Simme fahren!

    Ohne ein bestimmtes Gefühl des „Abgehängt-Werden-Seins“ lässt sich der Osten auf jeden Fall nicht erklären. Im Prozess der Einverleibung der ostdeutschen Wirtschaft durch das BRD-Kapital wurden ganze Lebensentwürfe über den Haufen geworfen, dazu kam eine massive Abwertung der Ossis mitsamt ihrer Ideen, Werte und Gefühle. „Mir hatten ja nüscht“, heißt es heute über die DDR – aber wenigstens gab’s ‘ne Art Identität.

    Andere Momente der kollektiven Perspektivlosigkeit erleben wir als Jugendliche auch heute: Der Ausbruch der Corona-Pandemie, die verheerende Klimakrise, militärische Auseinandersetzungen in der Ukraine, Palästina und etlichen weiteren Brandherden der Welt. Kein Wunder, dass die Jugend mittlerweile so pessimistisch wie noch nie in die Zukunft blickt.

    Eine Jugend zwischen Krieg und Krise

    Natürlich, Angst vor der Zukunft hat man auch in Westdeutschland. Aber irgendwie – oder zumindest wirkt es oft so – knallt das ganze hier im Osten nochmal mehr. Dazu kommt, dass sich große Teile der Ost-Jugend mittlerweile in ihrer Identität angegriffen fühlen. “Die Grünen nehmen uns die Simme weg”, mit Bluetooth-Box Hardtekk auf der Parkbank hören ist verpönt und die “arroganten Studierenden aus Baden-Württemberg schauen nur auf uns herab”.

    Das mag total stumpf und weinerlich wirken – ist es zum Teil auch. Trotzdem existiert dieses Gefühl der Vernachlässigung aber nun mal. Und während oberschlaue Journalist:innen sich von oben herab die Finger über den „braunen Sumpf“ wund tippen und bürgerliche Links-Grüne auf Anti-AfD-Demos peinliche „Nazis essen heimlich Döner“-Schilder hochhalten, schaffen es faschistische Kräfte, genau dieses Gefühl für ihr giftiges Gedankengut auszunutzen.

    Passend dazu zeigt sich der (westdeutsche) AfD-Chef Thüringens Björn Höcke in einem Werbeclip auf einem fetzigen Simson-Moped, seelenruhig durch den Sonnenuntergang düsend.

    Mit North Face und Seitenscheitel nach unten treten

    Doch nur weil man sein Moped in Gefahr sieht, grölt man noch lange nicht „Nazi-Kiez!“ auf CSD-Gegendemos. Doch so existiert spätestens seit den Ereignissen in Bautzen, Leipzig und Magdeburg ein neues Auffangbecken für rechte Jugendliche, welches sie im Nullkommanichts radikalisiert. Eine halbwegs organisierte faschistische Jugendbewegung in Deutschland ist wieder Realität geworden, und in vielen Teilen erinnert die Dynamik an dunkle Zeiten der 90er.

    Jung, reaktionär, gut aussehend – oder nur Angst vor der Zukunft?

    Während der sogenannten Baseballschlägerjahre gehörten offene Gewalt gegen Linke und Alternative sowie rassistischer Terror gegen Geflüchtete und Gastarbeiter:innen zum düsteren Alltag. Unterstützt durch Neonazi-Kader aus dem Westen stürzten sich Jungfaschos auf Migrant:innen in der Platte – Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda waren dabei nur die schrecklichen Höhepunkte, vergleichbare Gewalt gab es eben auch in Großstädten wie Leipzig. Und große Teile der Bevölkerung mitsamt Polizei stehen daneben und applaudieren vermutlich insgeheim.

    Dazu gibt’s die passende Optik für die Jugend: Springerstiefel, Bomberjacke und nassrasierte Glatze. Und heute sind es eben New Balance Sneaker, die Regenjacke von The North Face und ein bombenfester Seitenscheitel.

    Als antifaschistische Jugendliche müssen wir heute feststellen, dass es wieder cool und erstrebenswert geworden ist, rechts zu sein. In unserem Alter mögen zwar viele nicht wissen, wohin mit sich, aber jahrzehntelanger Antikommunismus sowie weitere Faktoren haben doch dazu geführt, dass sich ein nicht unbeachtlicher Teil der ostdeutschen Jugend in einem sicher ist: “Lieber tot als rot”.

    Faschismus hier und heute bekämpfen!

    Der Osten tickt also anders. Doch wie können wir den Unmut auffangen? Wie stoppen wir den faschistischen Terror? Wie sorgen wir dafür, dass es zu keinen zweiten Baseballschlägerjahren kommt?

    Zuerst ist festzustellen, dass sich die Geschichte nicht einfach „im Kreis dreht“. Als Antifaschist:innen sind wir zu bewussten Taten und Handlungen gezwungen, die Kämpfe gegen alles Rückschrittliche bestimmten schon immer den Lauf der Geschichte. Vorm Rechtsruck resignieren ist also keine Option, heute gilt es, eine revolutionäre Alternative aufzuzeigen, aber auch ganz praktisch den Selbstschutz aufzubauen – denn wenn faschistische Strukturen in Thüringen gezielt planen, Linke zu töten, so ist das ein Konfrontationsniveau, vor welchem wir nicht einfach ängstlich die Augen verschließen können.

    Andererseits hat es auch seine Gründe, dass Jugendliche mit ihrem Hass auf das System und mit einer derartigen Perspektivlosigkeit in die Hände der Faschist:innen laufen und nicht in unsere. Die linke Bewegung ist oftmals zersplittert und wirkliche Kontakte zur Arbeiter:innenklasse müssen erst mühselig wieder aufgebaut werden. Gleichzeitig ist eine strömungsübergreifende antifaschistische Arbeit heute notwendig, um Schlimmeres zu verhindern – vermutlich auch mit Leuten, die peinliche Schilder hochhalten.

    Klassenbewusstsein statt „Critical Westdeutschness”

    Warum genau im Osten Jungnazis wie aus dem Boden sprießen, hat am Ende vielschichtige Gründe. Es sollte nicht primär darum gehen, welche Region jetzt wieviel NPD-Kader wohin zum Agitieren geschickt hat. Wir können Osten und Westen nicht ewig gegeneinander ausspielen. Fakt ist: Deutschland als Gesamtes geht mutige Schritte in Richtung Faschismus.

    Ideologisch gefestigte Jungnazis kann man nicht überzeugen. Trotzdem ist es jetzt an uns, eine greifbare Alternative zu diesem System zu schaffen. Denn davon überzeugen, dass irgendwas an diesem komischen Kapitalismus doch gar nicht mal so geil ist, müssen wir bei vielen Jugendlichen gar nicht mehr. Und das gilt für Ost und West.

    • Seit 2022 politisch aktiv in Sachsen. Schreibt am liebsten über Antifa und Kultur im Kapitalismus. "Es gibt kein anderes Mittel, den Schwankenden zu helfen, als daß man aufhört, selbst zu schwanken."

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