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    IDF-Befehl am 7. Oktober: Hannibal-Direktive doch nicht tot

    Das israelische Militär, die „moralischste Armee der Welt”, folgt nach jüngsten Berichten nach wie vor dem Protokoll, dass Soldat:innen ausgelöscht werden müssen, bevor sie dem Feind als Geiseln in die Hände fallen. Die entsprechende Direktive soll auch am 7. Oktober mehrfach angewandt worden sein.

    Im anfänglichen Chaos des Hamas-Angriffs am 7. Oktober haben die israelischen Streitkräfte einem Bericht zufolge das sogenannte Hannibal-Protokoll wieder angewandt. Diese Direktive befiehlt die Anwendung von Gewalt, um die Entführung von Soldat:innen zu verhindern, selbst auf Kosten des Lebens der Geiseln.

    Laut israelischer Recherche „weit verbreitet”

    Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete am Sonntag (auf den Tag genau neun Monate nach dem Angriff vom 7. Oktober), dass die Direktive bei drei von der Hamas angegriffenen Armeeeinrichtungen angewandt wurde. Damals wurden insgesamt ca. 250 israelische Geiseln in den Gazastreifen entführt.

    Eine Nachricht, die am 7. Oktober um 11:22 Uhr, etwa fünf Stunden nach Beginn des Angriffs, an Israels Gaza-Division übermittelt wurde, befahl demnach: „Kein einziges Fahrzeug darf nach Gaza zurückkehren.” Eine Quelle des Südkommandos sagte der Zeitung gegenüber: „Jeder wusste, was es bedeutet, keine Fahrzeuge nach Gaza zurückkehren zu lassen.”

    Haaretz berichtet, dass noch unklar sei, ob und wie viele Zivilist:innen oder Soldat:innen durch diese Befehle zu Schaden gekommen sind. Laut dem UN-Bericht vom 12. Juni hat das israelische Militär bei dem Angriff am 7. Oktober in Anwendung der „Hannibal-Direktive“ 14 seiner eigenen Bürger getötet. Dokumente und Aussagen von Soldat:innen sowie von mittleren und höheren Offizieren der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) deuten darauf hin, dass diese Praxis am 7. Oktober „weit verbreitet” war.

    Grund dafür sei die Ermangelung anderer Anweisungen gewesen. Den überraschten IDF mangelte es an klaren Alternativen, um auf den Angriff zu reagieren. Als Reaktion auf den Bericht erklärte ein IDF-Sprecher nun, dass interne Untersuchungen zu den Vorgängen am 7. Oktober und in der Zeit davor im Gange seien.

    Im Januar tauchten erstmals Vorwürfe auf, dass die IDF das Hannibal-Protokoll eingesetzt haben könnten, um Hamas-Kämpfer daran zu hindern, mit Geiseln nach Gaza zurückzukehren.  Während die Direktive bisher nur in Bezug auf Soldaten angewandt wurde, hat ein aufsehenerregender Vorfall im Kibbuz Be’eri, bei dem ein Brigadegeneral einem Panzer befahl, ein Haus zu beschießen, in dem sich militante Hamas-Kämpfer und 14 Israelis aufhielten, und dabei 13 der Geiseln tötete, Fragen über operative Verfahren aufgeworfen, die auch zu zivilen Opfern führten.

    Die Hannibal-Direktive

    Im Mai 1985 entließ Israel 1.150 Palästinenser im Austausch gegen drei israelische Gefangene. Bekannt wurde dies als der “Jibril”-Deal. Kurz darauf wurden weitere drei Soldaten der Givati-Brigade von der bewaffneten libanesischen Gruppe Hisbollah gefangen genommen. Mitglieder der Brigade sahen ein Fahrzeug mit ihren gefangenen Kameraden entkommen, eröffneten aber nicht das Feuer. Eine Richtlinie sollte sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert.

    Im Jahr 1986 trafen sich drei hochrangige israelische Militärs, um eine solche Leitlinie bei drohender Gefangennahme für Mitglieder der israelischen Armee zu entwerfen: die Hannibal-Direktive. Laut Einschätzung der Israeli Defense Forces (IDF) sei eine israelische Geisel die „ultimative strategische Waffe der Hamas”. Denn um gegenüber der eigenen Bevölkerung als Demokratie dazustehen, muss Israel alles daran setzen, Geiseln wieder freizukriegen. Sonst kommt es zu gesellschaftlichen Spannungen, wie zurzeit, da Ministerpräsident Netanyahu den Geiseln keine Priorität einräumt.

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    Doch nicht tot?

    Diese Direktive gilt seitdem als geheim. Allerdings sind genügend Bericht darüber an die Öffentlichkeit gelangt, um sie aufzudecken. Auch wenn der originale Wortlauf der Direktive nur zu erahnen ist, machen israelische Kommandeure ihren Soldat:innen den Inhalt dieser Direktive seitdem unmissverständlich klar. Nach dem Gaza-Krieg 2008-2009 meldete sich der Oberstleutnant der Golani-Elitetruppe zu Wort.

    Er erwarte von seinen Männern, dass sie eher Selbstmord begehen als sich gefangen nehmen zu lassen, sagte Schuki Ribak, der damals das 51. Bataillon kommandierte. Er habe seinen Soldaten vor ihrem Einsatz klare Anweisung gegeben, dass kein einziger von ihnen jemals gekidnappt werden dürfe. „Auch wenn das heißt, dass er sich und diejenigen, die ihn schnappen wollen, mit seiner Granate in die Luft jagt. Auch wenn das heißt, dass seine Einheit eine Salve auf das Auto abfeuert, in dem sie ihn wegschaffen wollen.”

    Nach der Anwendung der „Hannibal-Direktive“ in Rafah im Gazastreifen Anfang August 2014 wurde die Direktive dahingehend interpretiert, dass die israelische Armee alles tun müsse, den israelischen Gefangenen zu töten, wenn sie ihn nicht unmittelbar befreien könne.

    Amnesty International und ein Forscherteam von Forensic Architecture erstellten 2014 einen Bericht, aus dem die Forscher ableiteten, dass die Hannibal-Direktive der israelischen Armee in exzessiver Form angewendet worden war. Nach öffentlichen Anschuldigungen und internen Untersuchungen des als „Black Friday“ bezeichneten Vorgangs nahm das israelische Militär die Direktive im Jahr 2016 zurück. Sie wurde von einer Anordnung ersetzt, die zwischen Entführungen von Soldaten während und außerhalb von Gefechtszeiten unterscheidet. Nun scheint sie reaktiviert worden zu sein. Wahrscheinlich aber war sie nur totgesagt.

    Der israelische Staat und seine „moralischste Armee der Welt“ unterstreicht damit, dass der Tod der eigenen Soldat:innen und Arbeiter:innen in Kauf genommen wird, um die politischen Interessen der Herrschenden durchzusetzen.

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