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Sonntag, September 8, 2024
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    Alltagsheld:innen im Schatten des Systems!

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    Die Situation in den deutschen Kindertagesstätten ist katastrophal. Erzieher:innen sind froh, wenn sie die Tage mit zu wenig Personal und ohne größere Unfälle überstehen. Szenen wie diese spielen sich seit Jahren schon überall in ganz Deutschland ab. Trotz wiederholter Aufschreie der Pädagog:innen und Kindertageseinrichtungen hat sich vor unseren Augen eine brodelnde Krise entwickelt. – Ein Kommentar von Emilia Zucker

    Lara, eine junge Frau, die seit sechs Jahren als Erzieherin in einer Leipziger Kita arbeitet, sitzt wie so oft auch an diesem Abend vollkommen erschöpft und in sich zusammengesunken neben ihrem Partner auf der Couch. Ein weiterer anstrengender Arbeitstag liegt hinter ihr.

    Ihre Kollegin ist seit Wochen krank und sie ist den ganzen Tag allein für die Betreuung von zwanzig Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren verantwortlich. Das zehrt Kraft, spannt die Nerven bis aufs Äußerste an und macht Angst vor der Verantwortung: „Zum Glück ist keiner schwer verletzt worden.“ Das sind die Worte, die ihr bleiern aus dem Mund rollen.

    Eine Krise mit Geschichte

    Ein kurzer Abriss macht die Dramatik der Entwicklung deutlich: Der Bundestag beschließt 2013 den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für alle Kinder ab dem ersten bis zum dritten Lebensjahr. Schon zu diesem Zeitpunkt fehlten laut Schätzungen des Deutschen Jugendinstituts (DJI) 220.000 Kitaplätze. Die Lage ist prekär.

    Im Jahr 2018 fehlen sogar noch mehr Betreuungsplätze: Das Institut der deutschen Wirtschaft schätzt den Mangel trotz des zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahrzehnt geltenden Anspruchs auf Kitaplatz nach Sozialgesetzbuch VIII auf etwa 300.000 Kitaplätze ein. Ein weiteres halbes Jahrzehnt später ist die Lücke an Kitaplätzen nochmals größer als in den Vorjahren. Nun fehlen sage und schreibe 384.000 Kitaplätze. Insbesondere in den westdeutschen Bundesländern ist der Betreuungsbedarf kaum gedeckt.

    Die Krise zieht immer weitere Kreise. Und das vor dem Hintergrund, dass frühkindliche Bildung, aber auch die Bildung im weiteren Entwicklungsverlauf der Kinder und Jugendlichen maßgeblich für die kommenden Generationen unserer Gesellschaft sind, für die es zu kämpfen gilt.

    2024 – Die große Chance?

    Seit dem Jahr 2022 kommen durch verschiedene Faktoren, beispielsweise in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nun weniger Babys zur Welt als in den drei Jahren zuvor. Der Geburtenknick der vergangenen Jahre sorgt in einigen Bundesländern trotz des bundesweit weiterhin bestehenden Kitaplatz-Mangels für Debatten.

    In sämtlichen bürgerlichen Medien, Kultusministerien und von politischen Vertreter:innen wird nun davon gesprochen, diese sogenannte „demografische Dividende“ als Chance zu nutzen und die Betreuungsschlüssel besonders in den ostdeutschen Kitas zu verbessern. Damit ist gemeint, die Erzieher:innen zu entlasten und zu nutzen, dass nun insgesamt pro Erzieherin weniger Kinder betreut werden müssen. Die geplanten Gelder für die Kindertagesstätten, die auf Landesebene liegen, wären sogar vorhanden. Doch um sie einzusetzen und eine dynamische Förderung möglich zu machen, müsste das Kitagesetz angepasst werden. Das passiert aber bisher nicht.

    Stattdessen sehen wir aktuell in Sachsen, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern, wie erste Kita-Schließungen angedroht, geplant und umgesetzt werden (!), wie Mitarbeitende gekündigt werden, Eltern sich am anderen Ende der Stadt neue Kitaplätze klären müssen und Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen werden.

    Bleibt es wieder bei leeren Versprechungen?

    Die einen Politiker:innen sprechen von einer großen Chance für eine Verbesserung der Qualität der Kinderbetreuung, andere nehmen sehenden Auges die Lage hin und stellen vollmundig fadenscheinige öffentliche Forderungen auf. In der Praxis ändert sich aber nichts an der „Kitastrophe“. Dies hat seine Ursache darin, dass soziale Ausgaben wie Kinderbetreuung in kapitalistischen Staaten meist als erstes von Kürzungen betroffen sind und es im Kapitalismus kein Interesse an einer Vollbeschäftigung aller erwerbsfähigen Erwachsenen gibt, die durch eine solche flächendeckende Kinderversorgung ermöglicht würde.

    Das Kapital braucht immer eine gewisse Zahl an verfügbaren Arbeitskräften und hat deshalb ein Interesse daran, dass vor allem Frauen zu einem gewissen Teil zu Hause bleiben und dort die Kinderbetreuung übernehmen, anstatt zu arbeiten. Erst wenn die Kitaversorgung so schlecht ist, dass die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte zu gering wird – nämlich dann, wenn Elternteile nicht arbeiten gehen können, weil sie keine Kinderbetreuung haben – sehen Kapital und Staat Handlungsbedarf: „Der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen hat auch signifikante Auswirkungen auf die Wirtschaft als Ganzes. Eine der direktesten Folgen ist der Verlust an Arbeitskräften“, stellt etwa der Sparkassenverband aktuell fest.

    Die Chance im gemeinsamen Kampf – Spannungen überwinden!

    Während sich die Kapitalist:innen und ihre politischen Vertreter:innen also vor allem um den Profit scheren, eint Erzieher:innen, Kinder und Eltern ein gemeinsames Interesse, für das es sich zu kämpfen lohnt: Von oben ist keine Lösung der Kita-Krise zu erwarten, also muss diese von den Betroffenen von unten eingefordert und erkämpft werden!

    Was sind die Forderungen dabei? Unabhängig davon, ob die Geburten gerade zurückgehen oder steigen, müssen sich die Arbeitsbedingungen von Erzieher:innen verbessern und die Zahl der Kita-Plätze und Personalschlüssel dringend erhöhen. Nur damit verbessert sich die Situation von allen: Erzieher:innen, Kindern und Eltern. Dies lässt sich aber nur erreichen, wenn alle beteiligten Arbeiter:innen auch gemeinsam dafür kämpfen. Aktuell ist es aber so, dass Eltern und Erzieher:innen eher gegeneinander, statt zusammen arbeiten und sich gegenseitig die Schuld an der Situation geben. Dies nützt aber am Ende niemandem außer den Verursachern der Kita-Krise.

    Und genau das bedeutet, dass es Kräfte geben muss, die dafür einstehen, bestehende Spannungen zu bekämpfen und den Ärger und Groll der Eltern auf die schlechte Betreuungssituation umzulenken und mit der Wut der Erzieher:innen zu verbinden. Diese Synergien müssen genutzt werden, um Dampf zu machen: Gemeinsam auf der Straße! Damit Erzieher:innen mit genug Kraft, Zeit und pädagogischer Qualität unsere Kinder erziehen und großziehen können.

    Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 88 vom Juli 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

    • Erzieherin, die sich für die Rechte von Frauen und Arbeitern stark macht.

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