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Sonntag, September 8, 2024
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    Olympia 2024 – Verdrängung und Vertreibung

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    Um das Stadtbild in Paris während der Olympischen Spiele zu verschönern, siedeln französische Behörden arme Bevölkerungsteile gezielt um. – Ein Kommentar von Finn Krummbach

    Damit die Olympischen Spiele ein Marketing-Erfolg werden können, dürfen viele Obdachlose, Drogenabhängige, Prostituierte oder Migrant:innen die nächsten Monate nicht in Paris verbringen und wurden im Vorfeld der Olympischen Spiele an andere Orte vertrieben. Ein Report im Rahmen von „Le Revers de la Médaille” (Die Kehrseite der Medaille), einer Kampagne von über 70 französischen Organisationen, untersuchte die Entwicklung von April 2023 bis Mai 2024 und dokumentierte hier fast 13.000 Zwangsevakuierungen von obdachlosen Menschen.

    Der Bericht bezeichnet die Vertreibung von unerwünscht eingestuften Bevölkerungsgruppen aus den Zentren der Städte, an denen die Olympischen Spiele stattfinden, deshalb auch als „soziale Säuberung“. Die Stadt wird kurzerhand für die Zeit der Spiele umfunktioniert: Obdachlosen- und Flüchtlingsunterkünfte werden als Hotels betrieben, um Tourist:innen unterzubringen und größtmögliche Einnahmen durch das Großevent zu erwirtschaften.

    Dafür sammelt die französische Polizei die betroffenen Menschen in Massen ein und bringt sie in Vororten außerhalb der Stadt unter. Gewachsene informelle Wohnorte wie Obdachlosen-Camps, wo sich wohnungslose Menschen ein in ihrer Situation bestmögliches „Zuhause” aufgebaut haben, werden einfach geräumt. Von den über 12.000 betroffenen Menschen sind mindestens 3.000 minderjährig.

    Folgen für Betroffene der Vertreibung

    Dass die Betroffenen ihre gewohnte Umgebung und ihr Umfeld verlassen müssen, kann weitreichende Folgen für sie haben: Wer auf soziale Hilfen des Staats angewiesen ist oder beispielsweise eine Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen muss, hat nach der Umsiedlung meist keinen Zugang mehr zu den vorher zuständigen Behörden in der Stadt. Obdachlose verlieren ihre Beziehungen zu medizinischen und sozialen Hilfsprogrammen auf der Straße sowie die wenigen in ihrem persönlichen Umfeld.

    Nach den Olympischen Spielen muss diese soziale Infrastruktur an vielen Stellen erst wieder neu aufgebaut werden. Das macht die betroffenen Bevölkerungsteile in der Zwischenzeit noch ärmer und angreifbarer. Die Erfahrungen aus anderen Mega-Sportveranstaltungen zeigen auch, dass die Spiele in Paris von den französischen Behörden als Anlass genutzt werden können, um die Betroffenen aus ihrem Umfeld zu ent-ankern und die – vorgeblich kurzzeitige – Verdrängung auch in Zukunft weiterzuführen.

    Kampf gegen arme Menschen statt Kampf gegen Armut

    Ein Katalog an Repressionsmmöglichkeiten bereitet zudem auf „unerwünschte“ Menschen vor, die sich trotzdem in der Stadt aufhalten. Beispielsweise können nach einem neuen Gesetzesentwurf Menschen bei Häufung bestimmter Verhaltensweisen wie Betteln oder dem Aufhalten von Türen im Öffentlichen Nahverkehr eine sechsmonatige Gefängnisstrafe erwarten.

    Um das Bild einer aufpolierten Stadt aufrecht zu erhalten, werden solche Maßnahmen von einem sogenannten „Null-Kriminalitäts-Plan” begleitet: Er zielt auf systematische Verhaftungen und Inhaftierungen ab. Eine Mobilisierung von 30.000 Polizeikräften pro Tag und algorithmische Videoüberwachung – auch unter Einsatz von Drohnen – sind vorgesehen, Richter:innen wurden in einem Rundbrief des Justizministeriums zu konsequenter Bestrafung und schnellen Urteilen aufgefordert.

    2023 hat auch eine neue Haftanstalt eröffnet. Im Hinblick auf die Olympischen Spiele käme sie zur richtigen Zeit, so Justizminister Éric Dupond-Moretti. Doch auch tagtäglich findet soziale Säuberung in Großstädten statt, um bestimmte Stadtteile „sauber“ und ansprechend zu halten. Was sich dann den sportbegeisterten Gästen in Frankreich, den Besucher:innen der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland oder Tourist:innen in Berlin-Kreuzberg als schöner und zum Konsum einladender Raum präsentiert, wird für die ärmsten Bevölkerungsteile zunehmend zu Orten der Schikane und Verdrängung.

    Armut und soziale Probleme wie Obdachlosigkeit, aber auch Prostitution oder Drogenmissbrauch haben ihren Ursprung immer in der Gesellschaft, der sie entspringen. Der Kapitalismus kann diese Probleme, die er in jeder Metropole erzeugt, nicht lösen, sondern nur ver- und wegschieben. Die Politik reagiert deshalb mit immer drastischeren Maßnahmen, um soziale Probleme nicht nur bei Großevents aus dem Stadtbild zu entfernen – ganz nach dem Motto: „Was nicht sichtbar ist, gibt es auch nicht“.

    Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 88 vom Juli 2024 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

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