`
Sonntag, September 8, 2024
More

    Über 160 Tote bei Protesten in Bangladesch – Gericht kippt Quotenregelung

    Teilen

    In Bangladesch wüten zur Zeit Aufstände gegen Quoten für ehemalige Soldaten bei der Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst. Mitte Juli eskalierten die Proteste, als die Polizei Studierende angriff. Nach über 100 Toten hat das Oberste Gericht die Regelung teilweise gekippt. – Ein Kommentar von Thomas Mercy.

    Die Proteste gegen das Quotensystem in Bangladesch dauern seit Anfang Juli an. Angefangen von der Jahangirnagar Universität in der Hauptstadt Dhakar, breiteten sich die Proteste schnell über das ganze Land aus. Tausende gingen auf die Straße, um zu demonstrieren und Straßen zu blockieren. Am 15. Juli kam es zu einer Eskalation der Proteste. Auslöser waren Angriffe der Bangladesh Chhatra League (BCL) auf Protestierende, die auf dem Campus einer Universität in der Hauptstadt Dhaka, demonstrierten.

    Die BCL ist der studentische Flügel der Regierungspartei Bangladesh Awami League (BAL). Anhänger dieser Organisation sind mit Macheten, Knüppeln und Steinen bewaffnet auf die friedlich demonstrierenden Student:innen losgegangen. In einem Video ist zu sehen, wie vermutliche Anhänger:innen der BCL von Dächern des Campus Steine auf Protestierende warfen. Es sind ebenso Demonstrant:innen zu sehen, die von dem Gebäude geworfen werden. Am Abend griffen BCL Sympathisant:innen zusätzlich noch das Dhaka-Universitätklinikum an. Die Polizei hielt diese Angriffe nicht auf.

    Doch nicht nur durch die BCL, sondern auch durch die Polizei kam es zu starker Gewalt und vielen Verletzten. Die Polizei setzte vermehrt Tränengas ein und schoss mit Gummigeschossen auf die Protestierenden. Neben der Polizei wird auch die paramilitärische Grenzkontrolleinheit in der ganzen Nation eingesetzt, um die Proteste besser kontrollieren zu können.

    Am Mittwoch erschien Präsident Hasani im Fernsehen und hat in einer Rede dazu aufgerufen, die Demonstrationen zu beenden. Daraufhin wurde am Donnerstag die Zentrale des ausstrahlenden Senders BTV in Brand gesetzt. Dabei stiessen die Demonstrierenden abermals auf starke Polizeigewalt, 32 Menschen starben. Bis Ende der Woche starben insgesamt über 163 Menschen.

    Was hat es mit den Quoten auf sich?

    Das Quotensystem wurde erstmals 1972 eingeführt und reserviert 56% der Stellen im öffentlichen Dienst für bestimmte Gruppen der Gesellschaft. Und zwar 30% für Kinder und Enkelkinder der „Freiheitskämpfer“ des Unabhängigkeitskrieges, 10% für Frauen, 10% für Menschen aus „unterentwickelten“ Gebieten, 5% für indigene Gruppierungen und 1% für Menschen mit Behinderungen.

    Aufgrund von Inflation, der Instabilität des Marktes und des Mangels an Jobs im privatem Sektor, sind die sicheren und gut bezahlten Jobs im öffentlichen Dienst in Bangladesch heiß begehrt. Deswegen fühlen sich viele Studierende durch die Quoten unfair behandelt, da diese nach jahrelangem Studium oft ohne, oder nur mit einem sehr schlecht bezahlten Beruf da stehen.

    Das Quotensystem wurde zuvor 2018 nach großen Protesten außer Kraft gesetzt, sollte aber nach einer Entscheidung des hohen Gerichts wieder eingeführt werden. Nach dem Urteil begannen am 1. Juli diesen Jahres im ganzen Land Proteste, die sich dagegen richteten. Diese Entscheidung wurde nun vor einer Woche nochmal vom Obersten Gerichtshof aufgehalten, welcher in drei Wochen einen endgültige Beschluss treffen will. Damit haben sich die Protestierenden nicht zufrieden gegeben und die Proteste gingen weiter.

    Die Demonstrierenden fordern eine Reform des Systems. Hauptsächlich wird die Quote für Nachfahren der „Freiheitskämpfer“ stark kritisiert und es wird deren Abschaffung  gefordert. Die Quoten für indigene Gruppen und Menschen mit Behinderungen sollen allerdings beibehalten werden.

    Am 21. Juli hat der Oberste Gerichtshof nun eine Entscheidung getroffen und die Quotenregelung größtenteils aufgehoben. Die Vorzüge für die Angehörigen von Kriegsteilnehmern bleiben jedoch weiterhin in einem kleineren Maße bestehen. So werden nun nur noch 7% statt 56% der Stellen nach den Quoten besetzt. Dabei sind 5% für die Soldaten und ihre Familien reserviert, 2% für Menschen mit Behinderung.

    Mit der Gerichtsentscheidung geben sich die Protestierenden aber nicht zufrieden und lassen sich davon nicht besänftigen. Sie fordern die Aufhebung der Ausgangssperre und die Freilassung von Gefangenen.

    Reaktion der Regierung

    Trotz der relativ niedrigen Forderungen nach einer Reform des Systems, zeigte sich die Regierungspartei und insbesondere die Premierministerin während der Proteste nicht sehr kompromissbereit. Neben dem starken Einsatz von Gewalt durch Polizei und paramilitärische Einheiten hatte die Premierministerin die Protestierenden als „Razkarbezeichnet. „Razkar“ ist eine Bezeichnung für diejenigen, die Bangladesh im Unabhängigkeitskrieg gegen Pakistan verraten haben und angeblich mit der pakistanischen Armee kollaborierten. Dieses Statement hatte zu noch stärkeren Protesten geführt.

    Aufgrund der Proteste haben Schulen und Universitäten eine Schließung auf unbefristete Zeit angekündigt. Ebenso gibt es seit Donnerstag kein Internet mehr und am Samstag wurde eine Ausgangssperre ausgerufen um weitere Demonstrationen zu verhindern. Trotz des Militäreinsatzes zur Durchsetzung der Ausgangssperre gingen die Proteste weiter.

    Die Premierministerin Sheikh Hasina und ihre Partei BAL sind schon seit 2009 an der Macht. Die Wiedereinführung der Quoten erklären sich viele der Protestierenden damit, dass ihr Vater, welcher die Partei gründete, im Unabhängigkeitskrieg mitkämpfte. Viele Anhänger:innen der Partei sind ebenfalls direkte Nachfahren, was eventuell die Reaktion der BCL erklärt, welche sich durch die Einführung der Quote bessere Chancen erhoffen.

    Anfang dieses Jahres wurde sie zum fünften Mal gewählt. Als Reaktion darauf gab es bereits Proteste, welche auch mit starker Polizeigewalt und anderer Repressionen versucht wurden, zu unterdrücken.

    Nach kontroversen Parlamentswahlen: Polizei in Bangladesch schießt auf Proteste

    „Freiheitskämpfer“ oder neue herrschende Klasse?

    Die Demonstrationen beruhen auf der als ungerecht erachteten Bevorzugung der Nachkommen von „Freiheitskämpfern“ des Unabhängigkeitskrieges 1971. Doch warum spielt dieser Unabhängigkeitskrieg überhaupt so eine wichtige Rolle?

    Der Ausgangspunkt des Konfliktes war die Teilung des Gebietes der Bengalen im Jahr 1947. Das Gebiet stand unter britischer Kolonialherrschaft und wurde von den Briten in einen vorwiegend hinduistischen Landesteil im Westen und eine vorwiegend muslimischen Landesteil im Osten geteilt. Der hinduistische Teil wurde ein indischer Bundesstaat und der muslimische Teil wurde Pakistan zugeteilt und 1958 in Ostpakistan umbenannt.

    Trotz des großen Bevölkerungsanteils Ostpakistans, war die Region in der Regierung stark unterrepräsentiert und z.B. durch den Versuch, Urdu als einzige Sprache zu erlauben, stark unterdrückt. Als 1971 die oppositionelle, ostpakistanische Awami League gewann, weigerte sich die militärische Zentralregierung in Westpakistan, diesen Sieg anzuerkennen, was zu Massenprotesten und Streiks führte. Diese wurden auf gewaltsame Weise von der pakistanischen Armee zerschlagen. In dem darauf folgenden Unabhängigkeitskrieg starben bis zu 3 Millionen Menschen.

    Die bengalische Autonomiebewegung wurde dabei stark von Indien unterstützt, welches ein geostrategisches Interesse an einem unabhängigen Bangladesch hatte, um nur noch von einer Front angegriffen werden zu können. Die pakistanische Armee wurde hingegen von islamistischen Kräften sowie in großen Teilen von der USA unterstützt. Die USA hatte Sorge, dass ein unabhängiges Bangladesch sich auf die Seite der Sowjetunion und Chinas stellen würde, da die Unabhängigkeitsbewegung auch sozialistisch geprägt war. Dabei stellten die zahlreichen Kriegsverbrechen der pakistanischen Armee kein Problem für die USA dar.

    Es ist also zu einem gewissen Grad verständlich, dass die Freiheitskämpfer des Unabhängigkeitskrieges eine hohe Achtung in der Gesellschaft Bangladeschs erhalten, da diese das Land aus den Zwängen der pakistanischen Regierung befreiten.

    Jedoch sind die Menschen in Bangladesch heute keineswegs frei. Anstelle der pakistanischen Regierung etablierte sich die Awami League als neue herrschende Klasse. Anstatt einer echten Demokratie wurden die korrupten Strukturen der britischen Kolonialregierung übernommen. Die letzten Wahlen wurden von der Opposition und einem Großteil der Bevölkerung boykottiert und als undemokratisch bezeichnet. Auch an der Wiedereinführung der Quoten zeigt sich, dass die Regierung vor allem daran interessiert ist, ihre eigene Machtposition beizubehalten und zu stärken. Von den emanzipatorischen und sozialistischen Tendenzen der Unabhängigkeitsbewegung ist nichts mehr übrig geblieben und die Klassenunterschiede im Land werden aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise immer offensichtlicher und verheerender.

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News