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Dienstag, August 6, 2024
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    BAföG verfassungswidrig: Wie wenig ist genug fürs Existenzminimum?

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    Eine Berliner Medizinstudentin klagte gegen zu niedrige BAföG-Sätze. Nun stimmte das Berliner Verwaltungsgericht zu: BAföG Sätze, die niedriger als das Bürgergeld sind, seien verfassungswidrig, da sie unter dem „menschenwürdigen Existenzminimum“ lägen. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts bleibt noch aus. Doch was ist eigentlich ein „menschenwürdiges Existenzminimum“, und ist das Bürgergeld eine geignete Messlatte dafür? – Ein Kommentar von Jens Ackerhof.

    Was ist eigentlich ein „menschenwürdiges Existenzminimum“? Ist es die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben, auf soziale und politische Teilhabe? Bedeutet es, genug finanzielle Sicherheit zu haben, um einem Studium oder einer Ausbildung konzentriert und ohne Probleme nachgehen zu können? Oder bedeutet es lediglich, gerade genug zu haben, um zu überleben, womöglich bei mangelnder psychischer oder körperlicher Gesundheit?

    Für den deutschen Staat ist es wohl letzteres. Dies wird klar, wenn man den Blick auf Schicksale richtet z.B. von wohnungslosen Bürgergeldempfänger:innen, die lieber freiwillig in den Knast gehen, statt in einer überfüllten Notunterkunft oder auf der Straße zu schlafen, oder auf die Situation von chronisch kranken Langzeitarbeitslosen, die sich von dem Bürgergeld keine gesunde Ernährung leisten können. Das „menschenwürdige Existenzminimum“ kann also so niedrig angesetzt sein, dass von der Menschenwürde kaum etwas übrigbleibt.

    Klage und Anfrage wegen zu niedriger BAföG-Sätze

    Doch diese an sich schon extrem bescheidenen Ansprüche wurden von dem BAföG für Studierende anscheinend noch unterboten. Zu dieser Einschätzung kam am Dienstag das Berliner Verwaltungsgericht. Eine Medizinstudentin hatte 2016 zu Beginn ihres Studiums Klage erhoben gegen die BAföG-Sätze, die zum Leben, Wohnen und Studieren nicht ausreichen. Aufgrund eines bereits beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Parallelverfahrens wurde ihr Verfahren zurückgestellt.

    2018 wagte die bürgerliche Partei Die Linke noch einen Versuch in Form einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung: Darin beanstandeten sie, dass der BAföG-Satz zu diesem Zeitpunkt mit 399 Euro unter dem Hartz-IV-Regelsatz lag. Da die Sozialhilfen das Existenzminimum gewährleisten müssten und die Zahlungen an Studierende darunter lagen, sei der BAföG Satz verfassungswidrig. Auch die Kosten für Miete wurden thematisiert. Diese sind in den meisten Universitätsstädten alles andere als günstig – mit den damals veranschlagten 250 Euro kamen nur die wenigsten aus.

    Die damalige Regierung, gestellt von der CDU und SPD, argumentierte hingegen, dass Studierende eine besondere Personengruppe seien. Schließlich würden Studierende ja auch Leistungen erhalten, ohne dass Sie sich nachweislich um Jobs bemühen müssten oder andernfalls sanktioniert werden, wie es für Sozialhilfeempfänger:innen der Fall ist. Auch die Wohnsituation sei für sie viel leichter, da sie auf Wohnheimplätze, Wohngemeinschaften oder den elterlichen Haushalt zurückgreifen könnten.

    Abgesehen davon, dass nur jede zehnte Person in einem günstigen Wohnheim unterkommt, auch WG sehr teuer sein können und für viele der Verbleib bei den Eltern keine Option ist, zeigt diese Argumentation, wie der deutsche Staat die sogenannte Menschenwürde berechnet: Demnach hätten Bürgergeldempfänger:innen Recht auf marginal mehr Geld, da sie gezwungen sind, sich um Jobs zu bemühen und ansonsten sanktioniert werden. Studierende würden dieser Art der Repression nicht ausgesetzt und hätten daher laut der damaligen Großen Koalition auch nur Anspruch auf weniger Geld – Geld, das sie darüber hinaus später aber auch zurückzahlen müssen.

    Wie der deutsche Staat Arbeitslose und Studierende ausbeutet

    Der deutsche Staat präsentiert sich gerne so, als ob er in seiner unermesslichen Güte Almosen verteilt. Dabei ist klar: das kapitalistische System ist auf Arbeitslose genau so angewiesen, wie auf Studierende. Wer arbeitslos ist, der ist meist bereit, auch für niedrigen Lohn zu arbeiten – insbesondere, wenn die Sanktionen des Jobcenters ihm oder ihr keine andere Wahl lassen. Für die herrschende Klasse ist das eine sehr profitable Methode, Löhne niedrig zu halten.

    Gleichzeitig benötigt der Kapitalismus aber auch akademisch ausgebildete Fachkräfte. Umso profitabler, wenn man diese Studierenden außerdem einen Großteil ihrer Ausbildung selbst bezahlen lässt und für temporäre Unterstützung auch noch Rückzahlungen verlangt.

    Verwaltungsgericht stimmt Studentin zu, Entscheidung des Verfassungsgerichts steht noch aus

    Da das erste Verfahren der Medizinstudentin zurückgestellt wurde und auch das Bundesverfassungsgericht noch zu keinem Urteil kam, erhob die Studentin eine neue Klage, in der sie die BAföG-Höhe für ihre Studienzeit von Oktober 2021 bis September 2022 anfocht. Dieses Mal stimmte ihr das Berliner Verwaltungsgericht zu und untermauerte seine Entscheidung mit Zahlen: Während der damalige Unterkunftsbedarf mit 325 Euro beziffert war, zahlten im Sommersemester 2021 knapp 53 Prozent der Studierenden 351 Euro und mehr, knapp 20 Prozent von ihnen zwischen 400 und 500 Euro und weitere 20 Prozent über 500 Euro für eine Unterkunft.

    Außerdem kritisierte das Verwaltungsgericht, dass die Berechnungsgrundlage für den Unterkunftsbedarf bundesweit einheitlich veranschlagt wurde. Es begründete dies mit den großen Differenzen zwischen den durchschnittlichen Mieten der Städte: Während beispielsweise in Hamburg Studierende durchschnittlich 456 Euro zum Wohnen ausgeben müssen, sind es in Thüringen 317 Euro.

    Darüber hinaus würden die Bedarfssätze nicht zeitnah an sich ändernde wirtschaftliche Bedingungen wie die Inflation angepasst. Ob die Höhe der BAföG-Sätze verfassungswidrig ist, kann rechtlich jedoch nur das Bundesverfassungsgericht entscheiden, weshalb das Verwaltungsgericht das Verfahren aussetzte. Eine Antwort des Bundesverfassungsgerichts steht also noch aus.

    Menschenwürde für alle statt Spaltung von Oben!

    Natürlich wäre es ein Fortschritt, wenn derart niedrige Hilfen an Studierende als verfassungswidrig erklärt und zukünftig höhere Sätze beschlossen würden. Doch die Argumentation, an den Bürgergeldsätzen festzulegen, ist insofern problematisch, als sie die Höhe des Bürgergelds als Maßstab für ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ akzeptiert.

    Wer sich über mehrere Jahre mit einem anspruchsvollen Job entweder körperlich oder psychisch starken Schaden zugezogen hat und so nicht weiterarbeiten kann, sich aber dennoch etlichen demütigenden Jobmaßnahmen stellen muss und dafür lediglich Almosen erhält, für den ist nicht viel Menschenwürde übrig geblieben. Dass viele Menschen durch das Raster fallen und keine Möglichkeit auf langfristige Arbeit haben, ist Teil des Systems.

    Karl Marx nannte dies die „industrielle Reservearmee“ – arbeitslose Menschen, die im Zweifel dazu bereit oder gezwungen sind, für einen Hungerlohn zu arbeiten. Genauso werden Studierende mit der Hoffnung auf einen zukünftig höheren Lohn (den bei weitem nicht alle erhalten werden) darauf vertröstet, mit wenig Geld auszukommen. Anstatt Arbeiter:innen, Arbeitslose und Studierende gegeneinander auszuspielen, sollten wir eines realisieren: ohne uns kommt der Kapitalismus nicht aus. Kämpfen wir allerdings gemeinsam für eine gerechtere und lebenswertere Welt, kommen wir sehr wohl ohne den Kapitalismus aus!

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