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Donnerstag, August 22, 2024
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    Wahl im Iran: Welche Veränderungen bringt der „Reformer“ Pezeshkian?

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    Masud Pezeshkian hat die Präsidentschaftswahl im Iran gewonnen. Welche Veränderungen sind durch den neuen Präsidenten zu erwarten – und welche nicht? – Ein Kommentar von Marius Becker und Gillian Norman.

    Nach dem Tod des ehemaligen iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi, der bei einem Helikopterabsturz im Mai diesen Jahres ums Leben kam, fand Anfang Juli die Wahl zu seinem Nachfolger statt. Mit 53,7 Prozent der abgegeben Stimmen schlug der „Reformer“ Pezeshkian seinen Rivalen, den „Hardliner“ Said Jalili, mit 44,3 Prozent in der Stichwahl am vergangenen Freitag, 5.7.2024, deutlich. Da sich im ersten Wahlgang keiner der Kandidaten mit einer absoluten Mehrheit durchsetzen konnte, musste es zur Stichwahl kommen, bei der Pezeshkian schon vorne lag.

    Der Iran ist aktuell mit einer Reihe an Krisen konfrontiert. Die Wirtschaft liegt, unter anderem wegen der westlichen Sanktionen, am Boden. Das theokratische Regime der Mullahs verliert in den Augen der iranischen Öffentlichkeit zunehmend an Legitimität, was sich auch an der niedrigen Wahlbeteiligung bemerkbar macht. Sämtliche Protestbewegungen der letzten Jahrzehnte wurden gewaltsam niedergeschlagen und der Konflikt mit dem Westen und Israel droht immer wieder zu eskalieren.

    Iran vs. Israel: Keine gerechte Seite

    Fundamentalistische Herrschaft im Iran

    Bei dem ersten Wahlgang am 28. Juni kam es zu einer historisch geringen Wahlbeteiligung, denn nur 40 Prozent der möglichen Wähler:innen gaben ihre Stimme ab – die niedrigste Wahlbeteiligung seit der islamischen Revolution von 1979. Beim zweiten Wahlgang lag die Wahlbeteiligung dann bei 50 Prozent. Etwa 600.000 der knapp 30 Millionen Stimmen waren dabei ungültig – im Vergleich jedoch nicht bedeutsam mehr als bei der Bundestagswahl 2021 mit 500.000 ungültigen von 47 Millionen Wahlzetteln.

    Zuvor hatten bei den Parlamentswahlen im Mai die sogenannten „Hardliner“ von der Liste der Treuhänder die meisten der ausstehenden Sitze gewonnen – diese unterstützen nun auch den Präsidentschaftskandidaten Jalili. Im Parlament entfallen damit 233 der 290 Sitze auf Abgeordnete mit religiös-fundamentalistischen und frauenfeindlichen Einstellungen. Liberalere Kandidierende waren sowohl bei der Parlaments- als auch bei der Präsidentschaftswahl weitgehend daran gehindert worden, teilzunehmen. Von 80 Kandidaten wurden durch den sogenannten „Wächterrat” nur 6 zur Präsidentschaftswahl zugelassen – diejenigen, die dem religiösen Oberhaupt Ali Khamenei loyal gegenüberstehen. Frauen und diejenigen, die einen radikaleren Wandel der schiitischen Theokratie – einer Form des fundamentalistischen Islam – forderten, waren nicht zur Wahl zugelassen.

    Ein großer Teil der politischen Macht liegt bei dem religiösen Führer Ali Khamenei, der durch die Rolle des Islam in der Verfassung im Iran eine besondere Rolle genießt. Der Wächterrat als eine der zentralen politischen Institutionen besteht aus zwölf Geistlichen und Juristen, die jeweils zur Hälfte vom Parlament gewählt und von Khamenei ernannt werden, sie haben wiederum ein umfassendes Vetorecht in politischen Entscheidungen. Khamenei spielte selbst eine wichtige Rolle in der iranischen Revolution 1979, die sich gegen die Monarchie richtete. Während der Revolution kämpften unter anderem auch kommunistische Kräfte mit den Fundamentalist:innen gemeinsam gegen den Schah, wurden danach jedoch unter großer Verfolgung hingerichtet.

    Besonders repressiv zeigte sich der fundamentalistische Staat seit 2022 gegenüber den Protesten, die nach der Ermordung der Kurdin Jina Amini entbrannten. Hunderttausende Frauen gingen für eine Verbesserung ihrer Rechte auf die Straße – unter anderem gegen eine Aufhebung der Hijab-Pflicht und die Verfolgung durch die sogenannte „Sitten-Polizei”. In den letzten Jahren haben zudem die dokumentierten Exekutionen zugenommen. Im Mai 2024 wurden an einem einzigen Tag 10 Menschen hingerichtet.

    Pezeshkian als Teil der inneren Kämpfe

    Der ehemalige Herzchirurg Masud Pezeshkian, Sohn eines Iraners mit türkischen Wurzeln und einer kurdischen Mutter, absolvierte während des Iran-Irak-Kriegs (1980 bis 1988) ein Medizinstudium und wurde zwischenzeitlich auch an die Front entsandt. Er gilt als „moderater Reformer“ und steht damit für Veränderungen und einen anderen politischen Weg, um die Stabilität des Iran nach innen und außen zu sichern.

    Dies spielt sich ganz klar im Rahmen der herrschenden Ordnung ab, was jedoch keinen Unterschied zu anderen – auch westlichen – Ländern darstellt. Der Politikwissenschaftler Mohammad Marandi von der Universität Teheran zieht einen Vergleich zu der Situation in Großbritannien: Man würde auch in Großbritannien Soziolog:innen finden, die sagen würden, dass keine Partei einen großen Wandel herbeiführen würde. Es gäbe aber trotzdem eine Auswahl zwischen Parteien mit verschiedenem Programm, wobei klar ist, dass unter allen Parteien der Staat und seine grundlegende Ordnung weiter funktionieren würde – so auch im Iran.

    Trotzdem hoffen viele Menschen im Iran auf positive Veränderungen: Gegenüber der BBC sagt eine Wählerin, dass sie darauf hoffe, dass die neue Regierung etwas unternehme, um die Inflation zu senken und die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Zudem solle Pezeshkian die Sittenpolizei einschränken, die „Frauen jeden Tag belästige“. Ein anderer Wähler erklärt: „Er hat viel versprochen und muss das nun einhalten. Er hat bessere Beziehungen in den Westen und Sanktionen könnten aufgehoben werden. Das sind gute Nachrichten für uns.“

    Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, für die an der Lockerung der westlichen Sanktionen gearbeitet werden soll, steht weit oben auf der Agenda von Pezeshkian. Dazu schlug er Verhandlungen mit den USA und die Wiederaufnahme des iranischen Atomabkommens vor. Auch in den USA wird darüber diskutiert, die Chance zu nutzen und in der Zeit bis zu einer möglichen Wiederwahl von Trump – unter dem 2018 das Atom-Abkommen aufgelöst wurde – die Beziehungen zum Iran zu entspannen.

    Für die USA wäre eine Stabilität in der Region in Westasien von Vorteil, um sich auf den wichtigeren Krieg mit China konzentrieren zu können. Dafür kommt Pezeshkian, der im Wahlkampf mit einer Entspannung der Beziehungen geworben hatte, gerade gelegen. Im Verlauf der Spannungen zwischen Israel und Iran war es im Mai bereits zu Gesprächen zwischen dem Iran und den USA gekommen. Einfach werden die Verhandlungen jedoch keineswegs, denn eine einfache Unterordnung des Iran unter die US-amerikanischen Bedingungen ist eine unrealistische Aussicht.

    Eine Annäherung an Israel hat Pezeshkian hingegen klar ausgeschlossen. Innenpolitisch kritisiert er das brutale Vorgehen der Sittenpolizei bei den landesweiten Protesten im Jahre 2022 gegen die Kopftuchpflicht und die Unterdrückung der Frauen. Eine Abschaffung der Kopftuchpflicht ist dennoch kein Ziel von Pezeshkian. Er könnte allerdings veranlassen, dass die Kopftuchpflicht nicht mehr so streng kontrolliert wird und könnte ein bewusstes Wegsehen der Behörden als Fortschritt verkaufen. Zudem möchte er die Zensur des Internets im Iran lockern.

    Ob all diese Vorhaben umgesetzt werden können, liegt allerdings in erster Linie an den Verhandlungen des Präsidenten mit dem obersten religiösen Führer des Iran Khamenei. Dieser gilt als der mächtigste Mann im Land und kann faktisch jedes Vorhaben des Präsidenten lahmlegen. Nach seiner Wahl hatte Pezeshkian seine Loyalität ihm gegenüber beteuert.

    Unterdrückung der Kurd:innen

    Nechirvan Barzani von der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), der Präsident der autonomen Region Kurdistans im Nordwesten Irans ist, beglückwünschte den neu gewählten Präsidenten Pezeshkian, der selbst kurdische Wurzeln hat. Doch so entspannt, wie es auf den ersten Blick scheint, ist die Beziehung zwischen den Kurd:innen und der iranischen Regierung nicht. Stattdessen erfahren Kurd:innen eine besondere Unterdrückung, die von der konservativen PDK, die vom Barzani-Clan angeführt wird, mitgetragen wird. Diese stellt sich nicht hinter den Befreiungskampf der Kurd:innen, sondern kooperiert mit den iranischen Behörden. Die „fortschrittliche Partei für ein freies Leben in Kurdistan” (PJAK) ist im Iran dagegen verboten. Sie gilt als Schwesterpartei der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), die vor allem in den kurdischen Gebieten in der Türkei und Syrien aktiv ist.

    Kurdische Aktivist:innen der fortschrittlichen Organisationen – allen voran die Frauen – sind im Iran besonderer Repression ausgesetzt. So wurde im Mai die Journalistin Jina Modarres Gorji vom iranischen Revolutionsgericht in Sine (Sanandadsch) zu einer 21-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Auch kurdische Guerilla-Kämpfer:innen werden immer wieder durch iranische Gerichte zum Tode verurteilt, so wie der HPG-Kämpfer Hatem Özdemir.

    Zudem werden immer wieder kurdische Zivilist:innen, die beispielsweise in der Grenzregion zum Irak als Lastenträger:innen arbeiten, von iranischen Sicherheitskräften getötet. 2024 wurden alleine in den ersten fünf Monaten des Jahres mindestens 33 Lastenträger ermordet und über 200 verletzt. Auch kurdische Männer, die zum Wehrdienst eingezogen werden, berichten von einer unerträglichen Herabwürdigung und Misshandlung von Kurden durch Kommandeure.

    Veränderung ist möglich – aber nichts Grundsätzliches

    Auch wenn der neue Präsident einige kleine Verbesserungen für die Menschen im Iran umsetzen könnte, wird sich die grundsätzliche Ausrichtung dieses Staates dadurch nicht ändern. Diese zielt darauf ab, sich als Regionalmacht zwischen den Rivalen Saudi-Arabien auf der einen und Israel auf der anderen Seite nach vorn zu entwickeln. Eine Annäherung mit den USA könnte also zu Entspannung führen – gleichzeitig könnte wiederum eine neue Annäherung zwischen Israel und den USA mit Saudi-Arabien zu neuen Eskalationen in der Region führen. Zudem könnten die Milizen, wie die Hisbollah im Libanon, die zwar faktisch unter der Kontrolle des Iran stehen, eigene Angriffe starten, die zu einer Eskalation führen.

    Dazu wird die Arbeiter:innenbewegung im Iran durch die Repressionsbehörden gewaltsam unterdrückt, den Frauen ihre Freiheit geraubt und Kurd:innen ihre nationale Selbstbestimmung genommen. All dies sind Zustände, die nicht durch Reformen behoben werden können. Der Wahlerfolg des etwas moderateren Kandidaten muss zudem als Folge der inneren Klassenkämpfe im Iran betrachtet werden. Ohne die Kämpfe der – allen voran kurdischen – Frauen gegen die Unterdrückung und reaktionäre Politik wäre ein solcher Wechsel an der Spitze kaum möglich gewesen.

    • Schreibt seit 2022 für Perspektive und ist seit Ende 2023 Teil der Redaktion. Studiert Grundschullehramt in Baden-Württemberg und geht früh morgens gerne eine Runde laufen.

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