Seit dem 16. April gehen in der Türkei jeden Tag Tausende auf die Straße, um gegen das manipulierte Ergebnis des Referendums und für politische Freiheiten zu demonstrieren. Ein Gespräch mit Rohat Özgür.
Rohat Özgür ist Mitglied des Europarats für den “Kongress der demokratischen Völker” (HDK-A).
Der HDK-A ist ein Zusammenschluss von Organisationen aus der Türkei und Kurdistan in Europa und hat sich am 2. Februar 2017 auf dem Europakongress in Brüssel gegründet.
Wie beurteilen Sie das Ergebnis des Verfassungsreferendums in der Türkei? Wer hat gewonnen, wer verloren?
Das Ergebnis des Verfassungsreferendums am 16. April in der Türkei zur Verfassungsänderung zeigt vor allem eins: trotz faschistischen Staatsterrors, kolonialistischer Kriege, Massenverhaftungen von Oppositionellen, der politischen Liquidierungsangriffe auf die “Partei der demokratischen Völker “(HDP), trotz der Massenentlassung von demokratischen BeamtInnen, AkademikerInnen und LehrerInnen und vielen weiteren, unzähligen faschistischen Angriffen, hat die Erdogan-Diktatur es nicht geschafft, ihre Gegner zu unterdrücken. Dabei hatte die faschistische AKP-MHP-Koalition alle Möglichkeiten des Staates für das Referendum genutzt. Sie haben Schulklassen zu den Wahlkundgebungen gerufen, die öffentlichen Verkehrsmittel für die TeilnehmerInnen ihrer Kundgebungen eingesetzt, ihre Kampagne aus der Staatskasse bezahlt und die aktivsten Teile der Nein-Kampagne verhaften lassen. In einigen Städten haben sie sogar allein für die Teilnahme an den „Ja“-Kundgebungen bezahlt.
Deswegen können wir auf jeden Fall sagen: Wir haben gewonnen! Das NEIN hat gewonnen! Trotz massenhafter Wahlmanipulationen hat es die AKP nur auf eine knappe Mehrheit von 51,4 % geschafft. Es kann sein, dass am Abend des 16.April die Wahlkommission die Ja-Front zu Siegern erklärt hat. Wir und die Unterdrückten wissen aber, dass der wirkliche Sieger des Referendums das „Nein“ ist. Die antifaschistische Massenbewegung ist auf den Straßen und verteidigt ihre Nein-Stimme. Die großen Metropolen der Türkei wie Istanbul, Izmir und Ankara haben für „Nein“ gestimmt. In Nordkurdistan gab es Ergebnisse mit über 75% Nein-Stimmen. Nusayibin, Cizre, Sur sind Städte und Stadtteile, die letztes Jahr vom Staat dem Erdboden gleich gemacht wurden. Auch hier hat die Erdogan-Diktatur eine Niederlage erlitten. Die Ergebnisse haben noch einmal gezeigt, dass der Wille und die Entschlossenheit des kurdischen Volkes nicht gebrochen werden kann.
Es gibt massive Vorwürfe der Wahlmanipulation. Die Wahlbeobachter der OSZE und des Europarates haben zum Teil massive Ungleichheiten und Rechtsverletzungen im Wahlkampf und während der Wahl festgestellt. Müsste die Wahl dann nicht wiederholt werden?
Wir fordern, dass das Referendum vom 16.April annulliert wird. Wir wussten schon, dass wir unter ungleichen Verhältnissen zum Referendum antreten. Sie hatten alle Möglichkeiten des Staates, wir nur uns selbst. Die Wahlmanipulationen am Tag selbst haben aber unglaubliche Ausmaße. Über 2,5 Millionen Stimmzettel ohne offiziellen Stempel der Wahlkommission wurden ausgezählt, unzählige Videos, die Manipulationen dokumentieren, kursieren in den sozialen Medien.
Seit Tagen gehen in vielen Städten der Türkei Tausende Menschen auf die Straße. Man fühlt sich unweigerlich an die Gezi-Park- Proteste erinnert. Welches Ausmaß haben die Proteste und was sind die Forderungen?
Noch am Abend des Referendums sind Tausende Menschen in den Stadtteilen der Großstädte auf die Straßen gegangen. Seitdem gibt es jeden Tag Proteste gegen die Wahlmanipulationen. Die Nein-Plattformen, die vor dem Referendum gegründet wurden, organisieren nun in den Straßen, Stadtteilen und Städten die Proteste. Diese richteten sich anfangs vor allem gegen das offizielle Ergebnis des Referendums und die Wahlmanipulationen. Immer weiter entwickelt sich dieser Protest aber hin zu einem allgemeinen Protest gegen die Erdogan-Diktatur. Die Hauptforderung ist heute die Annullierung des Referendums. Der nächste Schritt ist es, diese Proteste aus den Straßen und Stadtteilen in die Zentren der Städte zu tragen, diese also zu zentralisieren.
Wie entwickelt sich die Situation in der Türkei nach dem Referendum? Geht die AKP-Regierung mit Erdogan gestärkt aus dem Referendum hervor?
Das Ergebnis des Referendums ist ein klares „Nein“. Erdogan wollte seine schon faktisch existierende Diktatur rechtlich legitimieren. Aber sowohl für die Unterdrückten in der Türkei und in Nordkurdistan, als auch für die internationalen Institutionen und Staaten konnte dieses Referendum keine Legitimation der Diktatur schaffen. Das knappe Ergebnis, trotz umfassender Wahlmanipulationen, und die Niederlage in den Metropolen und kurdischen Städten vertieft die Krise des türkischen Staates. Erdogan ist sogar geschwächt aus dem Referendum hervorgegangen.
Die Polarisierung der Gesellschaft in der Türkei und Nordkurdistan zwischen der Erdogan-Diktatur und den Antifaschisten wird sich vertiefen. Die Dynamiken für ein neues „Gezi“ sind da. Durch Nein-Foren, vereinte Widerstandszentren und Räte in den Straßen und Stadtteilen muss die vereinte demokratische Front gestärkt werden. Vor uns steht der 1.Mai, der internationale Kampftag der ArbeiterInnenklasse. Und dieser Tag wird für den politischen Kampf dieses Jahr eine besondere Bedeutung haben. Die Vorbereitungen für den 1.Mai werden uns die Möglichkeiten bieten, den Kampf für die Annullierung des Referendums mit den Forderungen der ArbeiterInnen, Frauen, Jugendlichen, Kurden und aller Unterdrückten zu vereinen. Wir werden in der Türkei, in Nordkurdistan und in Europa alles tun, um die demokratische Front gegen den Diktator Erdogan zu stärken und unsere Energie aus der Nein-Kampagne in den Kampf für politische Freiheiten zu kanalisieren.