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Donnerstag, April 18, 2024
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    Nadia und der Nobelpreis

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    Wie Nadia Murad zum doppelten Opfer im Bannkreis zwischen Religion, Nationalismus und Imperialismus wurde. – Ein Kommentar von Sepideh Sorkh

    Nadia Murad war als Jesidin der systematischen Gewalt der barbarischen Terrororganisation „Islamischer Staat“ gegen Nicht-Muslime zum Opfer gefallen. Als Frau war sie von der sexuellen Gewalt und Versklavung von Frauen besonders betroffen. Doch sie konnte dem Genozid an den Jesiden entfliehen und engagiert sich seither für Menschenrechte und besonders für die Rechte der Frau. Das Nobelkomitee hat sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

    Nadia war ein Mädchen, das in einem kleinen nordirakischen Dorf mit ihrer Familie gelebt hatte und nie gedacht hätte, eines Tages berühmt zu werden. Sie ist eine zierliche Frau, einfach und wenig gebildet, deren großer Traum es war, eines Tages Friseurin zu werden. Sie ist eine Frau, die sich früher nie mit Politik beschäftigt und keine Ahnung von dieser komplizierten Welt hatte. Doch am 3. August 2014 änderte sich alles für Nadia. Als Bewohnerin des jesidischen Dorfes Kodscho wurde sie Opfer von Genozid, Vergewaltigung und Ermordung ihrer Familie durch die faschistischen Mörderbanden des IS. Sie selbst konnte fliehen und hat überlebt.

    Später wurde Nadia erneut zum Opfer – diesmal aber nicht zum Opfer des IS, sondern zum Opfer politischer Instrumentalisierung: Der Irak, der Iran, nationalistische Kurden, sogar die Türkei und natürlich die westlichen Staaten haben ihre Chance gewittert, Nadia für sich auszunutzen.

    Friedensnobelpreis oder Image-Agentur für Kriegstreiber?

    Journalisten betitelten Alfred Nobel, den Gründer der Rüstungsfirma „Dynamit Nobel AG“, zu Recht als “Kaufmann des Todes”. Angesichts seines eigenen Todes wollte er mit der Gründung einer gemeinnützigen Stiftung seinen Namen wieder rein waschen (Link). Das Preisgeld der Alfred-Nobel-Stiftung stammte offenbar bis zuletzt auch aus Investitionen in große Rüstungsunternehmen (Link). Die so genannte „Nobelpreisstiftung“, die selbst nichts als ein Konzern ist, ist seit ihrer Gründung an allerlei Schweinereien von Rüstungskonzernen beteiligt gewesen (Link).

    Ich betrachte deshalb den Preis, benannt nach diesem Erfinder und Verkäufer des Dynamit-Sprengstoffs, nicht als Ehrung, sondern als Symbol für den gröbsten Zynismus. Sich das goldene Portrait eines gewissenlosen Waffenhändlers um den Hals zu hängen, ist kein Grund stolz zu sein – noch weniger, wenn man selbst Opfer eines barbarischen Krieges wurde.

    Die Rolle des westlichen Imperialismus

    Im Westen wird uns permanent gepredigt, dass der Nahe Osten und Afrika unzivilisierte, verrohte Gesellschaften darstellten, die keine Freiheit, keine Menschenrechte und keine Demokratie kennen, in denen es nur Konflikt, Armut und Schmutz gibt. Bildungssystem und Medien der westlichen Staaten malen dem gegenüber das Bild eines zivilisierten, freien und demokratischen, christlichen Europas.

    Aber wenn der Nahe Osten für viele Menschen zur Hölle geworden ist, wer trägt dann die Schuld daran? Wer liefert Waffen an die Diktatoren, die die Freiheit und Menschenrechte verachten? Wer manipuliert denn Proteste und Revolutionen, damit sie ins Leere laufen?
    Natürlich sind dies die westlichen Imperialisten. Es sind die EU, die UN, die NATO … die Kriegsherren, die großen Räuber aller Länder, die verantwortlich sind für die ganzen menschlichen Katastrophen, die sich heute abspielen. Der Westen verscherbelt Waffen an faschistische Diktatoren, nationalistische Kampfbünde oder religiöse Sekten im Wert von Milliarden Dollar. Der Westen führt selbst aus Profitstreben die blutigsten Kriege, für die Millionen Menschen geopfert werden. Das barbarische System, das wir westlichen Imperialismus nennen, tut alles, um Freiheit, Menschenrechte und Demokratie zu zerstören, wo sie den Profit behindern.

    Nadia Murad – Spielball oder Akteurin?

    Andrerseits versuchen die Imageberater des Imperialismus, seine verbrecherische Fratze hinter einer Romantisierung seiner Opfer zu verschleiern. Das bisher ekelhaftestes Lügengemälde, das die „Stiftung“ von sich selbst malte, war, dass sie eine arme Jesidin, die ihre Familie und ihre Heimat an die Rüstungskonzerne und Kriegsverbrecher verloren hat, in den Bannkreis ihrer Manipulationen hineingezogen hat. Das Ganze gleicht einem großen Schauspiel verschiedener Filmproduzenten, die das romantisierte Opfer zur Hauptdarstellerin ihres neuesten Dramas machen. Nadia selbst kann vielleicht das Gefühl der Anerkennung genießen. Aber tatsächlich wird sie mit der Verleihung des Nobelpreises für die verlogene Selbstinszenierung des imperialistischen Westens, die bis ins Detail choreographiert wurde, vereinnahmt. In der britischen Zeitung The Independent wird sie gar als Einzelkämpferin gegen den IS dargestellt.

    Die Aufmerksamkeit soll so vom eigentlichen Knackpunkt abgelenkt werden. Der Blick soll sich auf die vermeintlichen HeldInnen der Menschenrechte richten. Denn, wenn es noch HeldInnen gibt, können DIE ja für uns das Kämpfen übernehmen und wir können ruhigen Gewissens schlafen, ohne selbst etwas zu tun.

    Die zynischen Heuchler stellen sich vor aller Welt als Friedensapostel dar, indem sie ausgerechnet der lebendigen Verkörperung des Genozids an den Jesiden den Friedensnobelpreis verleihen, der über die westlichen Waffenfabriken finanziert wird. Gleichzeitig verbieten sie die Symbole der mutigen Frauen und Männer, die am entschiedensten gegen den IS gekämpft haben und tausende jesidische Frauen und Kinder aus der sexuellen Versklavung befreit haben. Nadias Schicksal zu zelebrieren, während man die kurdischen Arbeiterparteien, die YPG/YPJ und die kommunistischen Kräfte im Kampf gegen die IS-Faschisten wie Verbrecher behandelt, ist der Gipfel der Verlogenheit.

    Die politischen Kräfte im Nahen Osten

    Leider lässt sich Nadia aber auch von anderen Kräften instrumentalisieren. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob Nadia solche Fehler wie den Besuch in der Türkei und das Treffen mit türkischen Ministern mit Absicht begangen hat.
    Ich kann nicht sagen, ob Nadia einfach nur eine Marionette mächtiger politischer Akteure, nur ein Spielball kapitalistischer und imperialistischer Kräfte ist. Der Schein mag trügen, aber mir scheint zumindest, als sei sie in einen Bannkreis politischer Intrigen hineingeraten, dem sie kaum entkommen kann.

    In jedem Fall droht diese Frau, die zum Opfer frauenfeindlicher und menschenverachtender Gewalt geworden ist, zur politischen Vertreterin einer ebenso frauenfeindlichen und menschenverachtenden Ideologie zu werden.

    Als politisch aktive Frau aus dem Nahen Osten sollte sie aber wissen, dass all diese Regierungen kriminelle Regierungen sind, wobei jede Seite das positive Image dieser Frau nach Belieben für sich ausnutzen will. Sie sollte wissen, dass sie nicht Regierungen und Nutznießern dieses Systems dienen darf, die genauso grausam sind wie der IS. Wenn sie den IS bekämpfen will, muss sie die Kräfte bekämpfen, deren Produkt er ist.

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    • Perspektive-Autorin seit 2018 und geflüchtete kurdische Journalistin. Schwerpunkte sind Rassismus, Frauenkämpfe und Internationalismus.

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