Bereits zum elften Mal wollten ca. 100 Neonazis am gestrigen 16.11. ihr „Gedenken“ an in allierten Kriegsgefangenenlagern gestorbenen Soldaten von SS, Wehrmacht und Hitlerjugend durchsetzen. Dabei stießen sie auf Protest und Widerstand in über zehnfacher Personenstärke. – Ein Bericht von Leon Hamacher
Der Opfermythos Remagen
In den sogenannten „Rheinwiesenlagern“, offiziell „Prisoner of War Temporary Enclosure“, waren insgesamt rund eine Million deutsche Kriegsgefangene von April bis September 1945 in 23 Lagern entlang des Rheins inhaftiert. Durch kriegsbedingte Versorgungsengpässe gab es in diesen Lagern zu wenig Essen, schlechte hygienische Bedingungen und keine richtigen Behausungen für die Gefangenen. Dies forderte HistorikerInnen zufolge zwischen 4.000 bis 10.000 Tote.
Seit elf Jahren nutzen Neonazis ein Denkmal in Remagen als Anlass für geschichtsrevisionistische Aufmärsche. Bei ihren selbst als „Heldengedenken“ bezeichneten Demonstrationen sprechen sie mittlerweile von „einer Million Toten“, versuchen die Rheinwiesenlager als Vernichtungslager darzustellen. Von Anfang an gab es von BewohnerInnen der Stadt und antifaschistischen Gruppen aus der Region Protest und Aktionen des Widerstands.
Chronik des Protests:
Vor Beginn des Naziaufmarsches verschütteten Unbekannte Buttersäure, eine sehr übelriechende Substanz, auf dem eigentlichen Sammelplatz der Faschist*innen.
Dies führte zu einem größeren Einsatz der Feuerwehr und die Rechten mussten auf einen anderen Platz ausweichen.
Auch ihre geplante Strecke mit viel Publikum konnten sie nur wenige Meter laufen, da einige Aktivist*innen Bäume neben der Nazi-Route besetzten.
Diese Aktionsform als Mittel gegen rechte Aufmärsche ist bisher ungewöhnlich, hat sich in Remagen jedoch als erfolgreich bewiesen.
Um 10:30 versammelten sich zwischen 800-900 Personen zur Teilnahme an einer Gegendemonstration des Bündnisses „NS-Verherrlichung stoppen!“, die durch Remagen bis hin zu einer Endkundgebung in Sichtweite zum Ziel der Neonazis zog.
Ab 11:00 gab es eine Mahnwache am jüdischen Friedhof. Als die antifaschistische Demonstration dort eine Zwischenkundgebung abhielt, setzten sich mehrere Gruppen ab, um die Nazi-Route zu blockieren.
Eine der beiden Gruppen wurde dann in der Nähe des Bahnhofs vorübergehend eingekesselt.
Die andere bestand aus einer Intiative verschiedener linker Gruppen aus NRW, darunter die Bonner Jugendbewegung, Young Struggle und die Internationale Jugend.
Sie gelangten – nach einem ersten durch massiven Pfefferspray- und Schlagstockeinsatz der Polizei verhinderten Durchbruchversuch – auf die Strecke der Neonazis und formten dort eine Sitzblockade.
Rechte wurden unsichtbar
Die Rechten wurden wieder länger aufgehalten und mussten auf eine kleine Nebenstraße umgeleitet werden, wo sie niemand zu sehen bekam.
Die Sitzblockade wurde mit teilweise unnötiger, sehr starker Gewaltausübung der Polizei geräumt. Mindestens eine minderjährige Person wurde in die Gefangenensammelstelle in der Remagener Polizeiwache gebracht, andere wurden nur zu unterschiedlichen Bahnhöfen gefahren, der Umgang mit den Jugendlichen war von Willkür geprägt.
Blockade in Remagen – Nazis in Sichtweite#RemagenNazifrei #Remagen #nonazis pic.twitter.com/Mt0RS6vcEG
— Internationale Jugend (@Interjugend) November 16, 2019
Ab 13:00 gab es ein Konzert mit dem Motto „Kein Bock auf Nazis“ – in Sicht- und Hörweite der Endkundgebung der Nazis. Veranstalter waren die Stadt Remagen, das Bündnis „Remagen für Frieden und Demokratie“ und „Remagen Nazifrei“.
Zudem gab es durchgehend Proteste von AnwohnerInnen durch Plakate, Banner und Fahnen.
Gelungenes Zusammenspiel verschiedener direkter Protestformen
Für die Neonazis war der Tag eine Niederlage: Sie konnten nicht auf ihren ursprünglichen Kundgebungsplatz, mussten zweimal umdrehen. Sie konnten nur durchs Nirgendwo laufen und auch das nur Dank einem riesigen Polizeiaufgebot, inklusive der Spezialeinheit BFE (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit) der Bundespolizei. Dieses Jahr gab es mehr und vor allem direktere Formen des Protests und auch im nächsten Jahr ist kein ruhiges Remagen für die Rechten absehbar.
Naziangriff auf Rückreise der AntifaschistInnen – Polizei jagt Linke vom Bonner Hauptbahnhof
Auf dem Rückweg von AntifaschistInen aus Köln und Bonn kam es zu einem Zwischenfall am Bonner Hauptbahnhof. Während viele größere Zeitungen unkritisch die Polizeimeldung abgeschrieben haben und von einer „Massenschlägerei“ zwischen Rechten und Linken schrieben, die „unvermittelt aufeinandergetroffen“ wären, war ein Korrespondent von Perspektive Online vor Ort und kann die wirklichen Geschehnisse beschreiben:
Als der Zug mit den AntifaschistInnen im Bonner Hauptbahnhof ankam, wartete dort eine Gruppe von etwa zehn bis fünfzehn Neonazis, die zuvor am Aufmarsch in Remagen teilgenommen hatte. Laut AugenzeugInnen führten sie ein Transparent von „Die Rechte Duisburg“ mit sich, ein Abgleich von auf Twitter kursierenden Fotos der FaschistInnen mit Bildern vom Aufmarsch belegt diese Aussage.
Die für den Angriff in Bonn verantwortlichen Nazis hatten einen Transparent von "Die Rechte Duisburg" dabei. #Übergrifferächensich #Bonn #rmg1611
— Internationale Jugend (@Interjugend) November 16, 2019
Als einzelne AntifaschistInnen auf Höhe der noch nicht erkannten Neonazis aus dem Zug ausstiegen, wurden sie direkt bepöbelt und angegriffen.
Erst als die Nazis in den Zug stiegen und dort unter anderem begannen, auf eine junge Frau einzuprügeln, kamen mehrere Gegendemonstranten hinzu und versuchten Nothilfe zu leisten – jedoch deutlich weniger als 100 Personen, wie in einigen Artikeln zu lesen ist.
Kurz darauf kamen einige BundespolizistInnen angerannt und schützten zunächst eine Tür. Hinter ihr versteckten sich die Nazis, die unter anderem mit Bierflaschen um sich warfen – diese Angriffe auf Zuginsassen wurden von der Polizei nicht unterbunden.
In Folge des Gerangels kam es zu einem großen Polizeiaufgebot am Bonner Hauptbahnhof. Menschen, die „links“ aussahen, wurden aus dem Zug geworfen und vom Hauptbahnhof gejagt. Einige der Neonazis hingegen konnten später unbehelligt in dem Zug weiterfahren.
Stattdessen kesselte die Bonner Polizei einige Punks, die öfter auf dem Kaiserplatz aufzufinden sind und denen an dem Vorfall keinerlei Beteiligung nachgewiesen werden konnte. Die Beamten machten dennoch Fotos der Anwesenden, verteilten Platzverweise und drohten mit Ermittlungen wegen schweren Landfriedensbruchs.
Dieser faschistische Angriff hinterließ mindestens eine schwerer und mehrere leicht verletzte Personen auf antifaschistischer Seite. Von verletzten Neonazis ist uns bisher nichts bekannt.