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Mittwoch, April 24, 2024
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    Brüdergemeinde Korntal: Zwangsarbeit, Gewalt und sexueller Missbrauch

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    Die evangelikale Brüdergemeinde in Korntal muss mit weiteren Skandalen rechnen. Von 1949 bis in die 1990er Jahre war sie für systematischen Kindesmissbrauch verantwortlich. Täter:innen wurden geschützt, Taten vertuscht und Opfer verleumdet. Doch die Zahl der ehemaligen Heimkinder, die gegen die Brüdergemeinde aussagen und Widerstand leisten, wächst stetig. Ein Kommentar von Pa Shan.

    Schweigegeld für Opfer

    Die ehemaligen Heimkinder, die zwischen 1950 und 1980 Opfer von Gewalt in den Einrichtungen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal wurden, können bis zum 30. Juni 2021 Entschädigungen verlangen. Ursprünglich sollte die Frist im Sommer 2020 ablaufen, aber aufgrund der Pandemie wurde sie verlängert.
    2010 kam die Gewaltgeschichte der Brüdergemeinde erstmals ans Licht. Damals schilderte Detlev Zander, ein ehemaliges Heimkind der Brüdergemeinde, vor laufender Kamera, was ihm und anderen Heimkindern viele jahrelang angetan wurde. Die Süddeutsche Zeitung fasst zusammen:

    Da war die sadistische Tante G., die in ihrer ‚Rotkehlchengruppe‘ die Kinder windelweich schlug und sie zwang, Erbrochenes wieder zu essen. Da war der Hausmeister, der immer Jungs abholte, weil er mit ihnen angeblich Fahrräder reparieren wollte. Da war die Zwangsarbeit, waren die prügelnden Erzieher, ohne jede Ausbildung, aber beseelt von der Idee, den Kindern den Teufel austreiben zu müssen.“
    Zwangsarbeit, Prügelstrafen, Psychoterror und sexueller Missbrauch waren in den Kinderheimen der Brüdergemeinde jahrzehntelang an der Tagesordnung.

    Selbsthilfe ehemaliger Heimkinder

    Nachdem der Missbrauch durch die Brüdergemeinde bekannt geworden war, gründeten ehemalige Heimkinder dreier Kinderheime die Opferhilfe Korntal. Diese ist der Aufklärung der Verbrechen in Korntal und der Hilfe für die vielen Opfer verpflichtet. Entstanden ist unter anderem eine Homepage mit einem großen Archiv.
    Die Initiative erklärt: “Wir klagen an, dass wir in den Heimen Opfer von sexualisierter, physischer und psychischer Gewalt sowie Vernachlässigung geworden sind […] Wir fordern darum von der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal die Aufklärung und Aufarbeitung des Geschehens, nicht nur in den Heimen, sondern die komplexen Zusammenhänge der Gemeinde, und auch der Evangelischen Landeskirche Baden-Württemberg.“
    Immer mehr Opfer der evangelikalen Kindesmissbrauchs meldeten sich zu Wort. Ein Opfer schreibt: „Wenn es Schläge gab, weinten wir nicht mehr. Wenn Sexueller Missbrauch kam, waren wir bereitwillig, und hielten es aus. Es kam soweit, dass wir nicht mehr weinten, lachten oder redeten. In uns war es dunkel und kalt geworden, genau wie in einer Hölle.“
    Viele der heute Erwachsenen, die zwischen den 50er und 90er Jahren in den Kinderheimen waren, berichten von ihren Traumata, Depressionen und Suizidversuchen. Die Opferhilfe ermuntert dazu, sich mit den anderen Opfern zusammenzuschließen und (anonym) auszusagen.

    Schutz der Täter:innen

    Die TäterInnen reagierten, indem man Detlev Zander und andere Opfer der Lüge bezichtigte. Erst die Klage Zanders vor Gericht und die Beweislast zwangen die Evangelikalen dazu, einen Teil der Verbrechen zuzugeben und auf scheinheilige Weise Besserung zu geloben.
    Aber die Ereignisse sind keineswegs ausreichend aufgearbeitet. Die Opferhilfe Korntal schreibt: “Was geschah nach der Entdeckung? Was wurde getan und was wurde versäumt? Für die Täter wurde viel getan. Man schützte sie vor Strafverfolgung, man schüchterte Eltern und Kinder ein, um Strafanzeigen zu vermeiden. Man ermöglichte den Tätern, neue Arbeitsstellen, neue Opfer zu finden.“
    Mitunter waren die Evangelikalen dafür verantwortlich, dass Täter:innen nach ihren Taten ungeniert weiter misshandeln konnten: „Wurde ein Täter überführt, hat man ihn vielfach nicht der Polizei übergeben, sondern ihn an andere Heime weitergereicht, und dies im Wissen, dass dort weitere Übergriffe befürchtet werden müssen.“

    Vertuschung und Schweigen

    Kirchenrecht, Korruption und eine wegschauende Zivilgesellschaft verhindern ein Ende des systematischen Kindesmissbrauchs. Täter:innen werden nicht als Verbrecher:innen behandelt und ihre Taten als Ausrutscher. Systematischer Kindesmissbrauch wird als Summe von Einzeltaten dargestellt. Eine menschenfeindliche Weltanschauung – der christliche Fundamentalismus der Brüdergemeinde – wird als einfaches Glaubensbekenntnis abgetan.
    Die Brüdergemeinde zahlte „Anerkennungsleistungen“ zwischen 1.000 und 20.000 Euro an Opfer aus. Die geringen Mengen kommen einem Hohn gleich. Die Evangelikalen sind darum bemüht, die komplexen Zusammenhänge zwischen Staat, Kirche und Kindesmissbrauch zu verdunkeln. Und das Bundesland Baden-Württemberg macht mit. Eine ehrliche Aufarbeitung und echte Konsequenzen für die evangelikale Gemeinde gab es nicht.
    Der Staat war zwar gezwungen, die Klagen von Opfern anzunehmen und Urteile zu sprechen. Daher gibt es für die Opfer auch einmalige Entschädigungen in viel zu geringer Höhe. Viele der unmittelbaren Täter:innen sind jedoch bereits verstorben und können keine Haftstrafen mehr antreten oder vor die Öffentlichkeit treten.
    Ein konsequentes Urteil müsste auch die Mitwisser:innen bestrafen. Die Opferhilfe Korntal nennt vier verschiedene Gruppen von Mitwissenden, die bisher nicht bestraft wurden für ihr Schweigen und ihre Mittäterschaft. Ferner ist es notwendig, die Brüdergemeinde zu zerschlagen, um der systematischen Gewalt in den Kinderheimen ein Ende zu bereiten.

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