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Zeitung für Solidarität und Widerstand

Tunesische Kommunist:innen: „Die Muslimbrüder loszuwerden war ein echter Fortschritt, ist aber nicht genug“

Vor über einem Monat hat Tunesiens Präsident Kais Saied die Regierung der Muslimbrüder-Organisation „Ennahda“ ihres Amtes enthoben und die Arbeit des Parlaments eingestellt. Anlass waren Massenproteste gegen das Wirtschafts- und Corona-Krisenregime der Regierung. Dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen auch die marxistisch-leninistische Organisation „Parti Patriotique Démocratique Socialiste“ (PPDS) eine Rolle spielt. – Wir haben Hedi Jamel von ihrer Jugendorganisation Kifah zur Situation in Tunesien interviewt.

Wie hat sich Tunesien seit dem „Arabischen Frühling“ entwickelt und wie ist es zur jetzigen Zuspitzung gekommen?

Was am 14. Januar 2011 geschah, als Hunderttausende bei den größten Demonstrationen in der Geschichte Tunesiens auf die Straße gingen, war in der Tat der Tropfen, der das Land ertränkte und zum Sturz des damaligen Präsidentendiktators Ben Ali führte.

Das krönte nicht nur eine 27-tägige Rebellion und Aufruhr der Tunesier gegen Korruption, Tyrannei, Vetternwirtschaft, Arbeitslosigkeit und Armut. Über fünf Jahrzehnte diente diese Diktatur den Interessen des Imperialismus. Der Umbruch vom 17. Dezember 2010 bis 14. Januar 2011 war der Abschluss einer ganzen Umbruchsgeschichte.

Erwähnenswert sind auch der Generalstreik von 1978, bei dem mehr als tausend aufständische Arbeiter:innen getötet wurden, und der Brotaufstand von 1984, als Hunderte von Revolutionär:innen ermordet wurden, und nicht zuletzt die Rebellion im Bergbaubecken 2008: Damals gingen die verzweifelten, die arbeitslosen und verarmten Menschen der reichsten Gegend Tunesiens, die jedoch unter Umweltverschmutzung und Krankheiten litten und keine Fortschritte oder Entwicklungen sehen konnten, auf die Straße, organisierten historische Sitzstreiks und wurden mit Eisen und Feuer konfrontiert. 5 Menschen wurden getötet und Hunderte wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Aber leider gelang es nicht, das Klassenregime zu stürzen.

Kurz gesagt, der Funke des sogenannten „Arabischen Frühlings“ – ein Begriff, den wir nicht verwenden – war kein separates Ereignis, sondern ein ganzer revolutionärer Prozess der verschiedenen Umwälzungen der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten Klassen, dem es gelang, den Kopf des Regimes abzuschlagen. Aber leider gelang es nicht, das Klassenregime zu stürzen. Es war ein Umbruch, der seit der Wahl der Muslimbrüder im Jahr 2011, die bis zum 25. Juli diesen Jahres an der Macht blieben, entführt und verraten wurde.

Die Muslimbrüder wurden von Präsident Kais Saied von der Macht entfernt, wer ist er? Präsident Kais Saied ist als Person bekannt, die „niemals einen politischen Erfolg erreicht hat und kein bekannter Politiker ist“. Wie war es also überhaupt möglich, dass er gewählt wurde?

Ja, es stimmt, Kaeis Saeed hat keine politische Vergangenheit in der Opposition. Doch seit 2010 steht er der aufständischen Jugend und den Verwundeten der Revolution und den Familien der Märtyrer sehr nahe. Danach gewann er Popularität und wurde als Professor für Verfassungsrecht, der in den Medien allgegenwärtig war, sehr bekannt.

Als er sich bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat präsentierte, erschien er als der sauberste, transparenteste und korrekteste Kandidat inmitten einer korrupten politischen Klasse, die das Volk verriet und an die die Menschen nach dem Scheitern des Systemwechsels das Vertrauen verloren.

Er gewann, weil seine Rede und Sprache anders war. Er gewann, weil die Leute die politische Klasse hassten und er ein neuer Politiker war.

Betrachten ihr die jüngsten Ereignisse als Putsch?

Nein, was am 25. Juli geschah, war ein weiterer Volksaufstand. Hunderttausende Menschen gingen auf die Straße, um gegen 10 Jahre des Scheiterns, 10 Jahre anhaltender Lügen und nicht eingehaltener Versprechen zu protestieren. 10 Jahre anhaltende Armut, Korruption, Arbeitslosigkeit. Denkt daran, dass die Umwälzung von 2010 genau ein Protest gegen diese Bedingungen war.

Die Leute gingen auf die Straße, um „basta“ zu sagen – genug ist genug. Und dann ergriff Kaeis Said die Gelegenheit und wurde von Demonstranten gedrängt, das Einfrieren des Parlaments zu erklären, die Regierung aufzulösen. Diese Entscheidungen wurden tatsächlich von Demonstrant:innen gefordert, Präsident Saied reagierte nur positiv auf diese Forderungen und Bitten.

Daher betrachten wir als PPDS , wie auch unser Bündnis (einige linke Parteien, Jugendgruppen, Intellektuelle und unabhängige progressive Aktivisten) die Ereignisse vom 25. Juli als einen Schritt vorwärts, der die muslimischen Brüder von Ennahda, die für sie regierten, gestürzt hat, die 10 Jahre verantwortlich für Attentate, Terrorismus, Armut, Korruption waren.

Saied ist kein Kommunist, kein Revolutionär, aber er hat die richtigen Entscheidungen getroffen, um uns zu helfen, unseren größten Feind loszuwerden, und wird diesen Weg fortsetzen müssen. Wir werden nicht seine politischen Verbündeten sein, wir werden kein Bündnis mit ihm eingehen, aber wir werden weiterhin Druck ausüben und für aktuelle Reformen kämpfen und auch unseren revolutionären Kampf für die demokratisch-patriotische Revolution mit sozialistischer Perspektive fortsetzen.

„Innerhalb weniger Stunden sahen wir Hunderttausende Menschen auf den Straßen“

Wie erkläret Ihr euch, dass die Menschen nach einem Video-Aufruf eines Parlamentspolitikers auf die Straße gingen?

Nein, das ist nicht richtig. Es war ein Aufruf von Gruppen rebellischer Jugendlicher und kam zum richtigen Zeitpunkt des Zorns und der Wut der Menschen aufgrund des Versagens der Regierungen bei der Eindämmung der Covid-19-Pandemie und der Bereitstellung von Impfstoffen, die mit der angesammelten Wut aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und der teuer werdenden Preise einhergingen.

Viele politische Parteien wie unsere und andere unterstützten die Aufrufe und gingen mit Menschen ohne Parteifahnen auf die Straße. Dann reagierten die Leute positiv und innerhalb weniger Stunden sahen wir hunderttausende Menschen auf den Straßen.

Könnt ihr uns etwas über die Zusammensetzung der Demonstrant:innen erzählen, die kürzlich auf die Straße gegangen sind?

Wie wir oben beantwortet haben. Das sind Jugendgruppen, rebellisch und revolutionär. Eine Mischung aus ehemaligen Mitgliedern kommunistischer Parteien, Anarchisten, Unabhängigen, die sehr kreativ, empörend und patriotisch sind. Wir sind jetzt in einer Allianz mit ihnen und versuchen, ein Netzwerk von Revolutionären zu schaffen, die keine Unterstützer des Präsidenten sind, sondern Unterstützer des 25. Juli als Ende der Ära der Muslimbrüder des Terrorismus, der Morde, der Korruption, der Armut…eine bessere Ära.

Haben die Pandemie und die Wirtschaftskrise diesen Prozess ausgelöst? Wir wissen, dass der Impfprozess nicht gut lief. Wie hat die Regierung die Impfung organisiert?

Ja, in der Tat. Die Regierung von Mechichi, dem wichtigsten Verbündeten der muslimischen Brüder, hat es völlig versäumt, Impfungen bereitzustellen und Covid zu bekämpfen. Die Wut und der Zorn der Menschen lösten zwar die Proteste vom 25. Juli aus, aber sie waren nur eine der Ursachen. Die wirklichen Ursachen waren, wie bereits erwähnt, das Gefühl von Wut und Verzweiflung aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit, Armut, Inflation und aufgrund der Korruption.

Es gibt Gerüchte, dass die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien hinter der Absetzung der Muslimbrüder stehen. Was denkst du darüber?

Wir glauben das nicht. Sie versuchen jedoch jetzt, in das politische Spiel einzusteigen und versuchen, Einfluss zu nehmen, da sie gegen die Muslimbrüder sind und einen anderen Ansatz verfolgen. Die Vereinigten Arabischen Emirate und das Königreich Saudi-Arabien sind jedoch beide undemokratische, despotische korrupte feudale Rentier-Regime. Wir sollten zu keiner Allianz oder Vereinbarung mit ihnen ermutigen. Dies wird ein echter Test für Saied. Wenn er unter ihrem Druck niederknien würde, würde er alles verlieren.

Die Menschen sind sich bewusst, dass Korruption ein Krebsgeschwür in der Wirtschaft des Landes ist.

Auch über Korruption wird viel diskutiert. Was denkt die tunesische Bevölkerung darüber?

Die Menschen sind sich bewusst, dass Korruption ein Krebsgeschwür in der Wirtschaft des Landes ist. Sie revoltierten gegen die korrupten Familien von Ben Ali und Trabelsi, die riesige pharaonische Vermögen machten und danach verfolgt wurden und alles verloren.

Doch seit 2011 wurde den Menschen bewusst, dass Ennahda die neue korrupte Gruppe ist, seit sie ein Versöhnungsgesetz verkündet und die alten korrupten Leute von Ben Ali begnadigt hat. Sie hat sich mit ihnen verbündet. Zusammen wurden sie die neuen Extrem-Reichen, die neuen Millionäre und Milliardäre. Das Parlament wurde auch zu einem Raum der Immunität für die Schmuggler und die korruptesten Geschäftsleute.

Deshalb konnten die Menschen eine so bittere Realität nicht mehr akzeptieren. Deshalb sind sie am 25. Juli auf die Straße gegangen und unterstützen jetzt Kais Saieds Kampf gegen die Korruption.

Es gibt eine Nähe zwischen der Ennahda-Bewegung in Tunesien und der türkischen AKP, die beide zu den Muslimbrüdern gehören. Könnte sich die Absetzung von Ennahda aus der Regierung auf die Rolle der AKP in der Region auswirken?

Ja, in der Tat. Schon der  Verlust Ägyptens war ein schwerer Schlag, der das Projekt der Muslimbrüder in der Region blockierte. Tunesien jetzt zu verlieren, wird dieses Projekt beenden. Präsident Kais Saied bereitet ein Gesetz vor, das das Handels- und Wirtschaftsabkommen zwischen Tunesien und der Türkei beenden wird, da es der tunesischen Wirtschaft schadet. Dies ist ein Zeichen dafür, was in naher und ferner Zukunft passieren wird.

Anfang dieses Jahres gab es auch Kundgebungen. Bei den Protesten ging es um Polizeigewalt, Corona-Maßnahmen und Armut. Wer waren diese Demonstrant:innen? Welche Auswirkungen hatten diese Aufstände?

Ja, in der Tat. Im Januar dieses Jahres fanden sehr große Proteste gegen die Repression der Polizei und gegen die Wirtschaftskrise, Armut usw. statt. Es waren fast die gleichen Gruppen und politischen Parteien der Linken, die die Proteste vom Juli 2021 ausgerufen und organisiert haben, mit Ausnahme der Arbeiterpartei von Hamma Hamami, die eine sehr falsche Position gegen die Proteste einnahm und am 24. Juli eine Erklärung zum Boykott der Proteste forderte und Kais Saieds Entscheidungen als Putsch bezeichnete.

Wie lautet Eure Perspektive für die Zukunft? Wie wird sich dieser Prozess entwickeln?

Bis jetzt sind die Dinge instabil und schwammig und nicht klar genug. Wenn Präsident Saied jedoch das Parlament vollständig auflöst und neue Änderungen der Wahlgesetze und der Verfassungsänderung ermöglicht, könnte dies den Boden für klare Änderungen zugunsten der unterdrückten Bevölkerung ebnen.

Unsere Rolle als Revolutionär:innen muss jedoch darin bestehen, weiterhin Arbeiter:innen und Unterdrückte zu organisieren und den revolutionären Kampf fortzusetzen, bis das Klassenregime besiegt ist, das immer noch regiert und mächtiger ist denn je. Die Muslimbrüder loszuwerden, die wahren Terroristen und Feinde des Fortschritts und der Entwicklung, Feinde der Geschlechtergleichheit und der Freiheiten, war ein echter Fortschritt, aber nicht genug, um das Klassenregime zu stürzen und es zu zerstören, um eine neue Gesellschaft in Richtung Sozialismus aufzubauen.

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