Russland reißt sich Teile der Ukraine unter den Nagel und inszeniert sich dabei als Schutzmacht gegen den „Genozid“. Währenddessen rüstet der Westen für den Krieg und weitet seinen Einfluss in Osteuropa in noch nie gekanntem Maße aus. Diesem Machtspiel müssen wir entschlossen entgegentreten, denn es geht auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter Europas. – Ein Kommentar von Enver Liria
Mit großen Worten verkündete der russische Präsident Wladimir Putin bei einer fast einstündigen Rede die Anerkennung der Donbass-Republiken als unabhängige Staaten. Dabei holte er weit aus und ging bei seiner Argumentation zurück bis zur Oktoberrevolution. In der Geburtsstunde der Sowjetunion hätten die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze einen folgenschweren Fehler begangen. Sie garantierten allen Nationen die Selbstbestimmung bis hin zur Loslösung. Diese von den Bolschewiki gelegten „Landminen“ seien nach dem Fall der UdSSR von verschiedenen Nationalisten gezündet worden und hätten Russland in viele einzelne Teile gesprengt.
Doch Putin spinnt den Traum eines großrussischen Reiches erneut: Als Kopf der Bolschewiki sei Lenin „Autor und Architekt“ der Ukraine gewesen. Der Donbass sei in die „Wladimir-Lenin-Ukraine“ hineingepresst worden. Putin geht so weit zu behaupten, dass die Ukraine kulturell und historisch zu Russland gehöre, womit er die Existenz einer ukrainischen Nation negiert.
In seiner ausschweifenden Rede bedient sich der russische Präsident allerlei rhetorischer Kniffe, doch sollen diese Worte nur verhüllen, worum es eigentlich handelt: Letztendlich geht es ihm bei dem Gerede von ukrainischem Nationalismus und russischer Kultur am Ende doch nur um die Sicherung des Einflussbereichs des russischen Imperialismus. Die verkündete Unabhängigkeit der zwei „Volksrepubliken“, die rein gar nichts mit den eigentlichen Volksrepubliken des 20. Jahrhunderts zu tun haben, soll nun formell das festschreiben, was schon seit Jahren faktisch passiert: Die Gebiete sollen offiziell nicht mehr Teil der Ukraine sein und können womöglich bald über ihren Beitritt zur russischen Föderation abstimmen.
Bösewicht Putin?
Bis hierhin scheint das Feindbild klar: Der machtgierige Putin greift nach einer jungen Demokratie und bricht einen Teil aus dem Land heraus. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite deckte der russische Präsident ironischerweise in seiner Rede ebenso auf: Denn nicht nur von Osten her wird nach der Ukraine gegriffen. Der Westen bedient sich gemeinsam mit einer Schicht reicher Oligarchen und „Radikaler“, wie Putin sie nennt, freigiebig an den Schätzen des Landes. Fakt ist, dass die Ukraine sich seit vielen Jahren in einer sozioökonomischen Krise befindet und diese Krise sich weiter verschärft. Die Lebensmittelpreise, die Preise für Gas und für Wasser schossen seit Beginn des Krieges im Osten des Landes 2014 in die Höhe.
Parallel dazu weitete der NATO-Block seinen Einfluss nach Osten aus und drang so näher und näher an russisches Staatsgebiet heran. Dass sich Russland von den neuen Militärbasen an seiner Westflanke bedroht sieht, provoziert selbstverständlich ein härteres Vorgehen durch Russland. Dabei ist eine Eskalation des Konflikts bis hin zu einem „Heißen Krieg“ nicht gänzlich ausgeschlossen, auch wenn ihn aktuell, trotz gegenteiliger Propaganda, so wirklich niemand will.
Auch der Westen muss nun nachziehen – aber wie? Neue Sanktionen, die diesmal vielleicht ganz Russland (und nicht nur die Donbass-Republiken) betreffen, könnten in Deutschland zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden führen. Auch die USA sind nun im Zugzwang, müssen sich aber auch diplomatisch zeigen, da der Hauptkontrahent der Supermacht nicht Russland, sondern China ist. Für die imperialistischen Anführer:innen geht also das Schachspiel in die nächste Runde. Während die Strateg:innen im Weißen Haus, in Berlin, in Moskau und Kiew ihre Figuren in Stellung bringen, ist es an der Zeit, sich gegen den eigenen „König“ zu wenden.
Vereinen wir uns gegen ihren Krieg!
Wollen wir nicht zum Spielball der Imperialist:innen werden, dürfen wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Es gibt keine „besseren“ Imperialist:innen, auf deren Seite wir uns schlagen sollten. Weder der pseudo-demokratische Westen, noch der angeblich anti-nationalistische Osten sind unsere Verbündeten. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Gerangel um die „Volksrepubliken“ nicht um einen Konflikt um das Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Nationen, sondern um ein Manöver einer imperialistischen Macht gegen eine andere.
Wir dürfen nicht die Verbrechen des Einen mit denen der Anderen aufwiegen! Sie alle dienen der Oligarchie, den Milliardär:innen und wollen ihre Machtspiele auf unserem Rücken austragen. Auf dem Rücken der russischen Arbeiter:innen, die wieder ihr Blut in einem verheerenden Krieg lassen sollen, oder auf dem Rücken der ukrainischen Arbeiter:innen, die Tag für Tag weiter ausgeplündert und geknechtet werden, oder auf dem Rücken der deutschen Arbeiter:innen, die die Teuerungen infolge neuer Sanktionen tragen müssen und deren Herzen und Köpfe durch den Militarismus und die Kriegspropaganda vergiftet werden. Richten wir also nicht die Waffen gegen unsere Geschwister in anderen Ländern, sondern vereinen wir uns gegen die Kriege der Herrschenden!