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Donnerstag, April 25, 2024
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    Türkei in der Krise – Von unten kommt Widerstand

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    Seit einigen Monaten kommt es in der Türkei vermehrt zu Streiks. Gewaltige Teuerungen auf Lebensmittel, Strom und Gas haben besonders in den vergangenen Monaten Proteste ins Leben gerufen. Arbeiter:innen organisieren Widerstand und stellen mit revolutionären Gewerkschaften ihre Forderungen auf. Ein Kommentar von Yusuf Özkan.

    Die aktuellen Preissteigerungen in der Türkei betragen für Mehl und Hühnerfleisch 86%, für Sonnenblumenöl, Milch und Joghurt 75%. Der Preis für Brot ist um 54% gestiegen. Strom ist um 50 % teurer geworden, Gas kostet die Menschen rund 25 % mehr.

    Die Inflationsrate von 36,08%, die das Statistikinstitut der Türkei (Türkiye İstatistik Kurumu – TÜIK, auch bekannt als TÜRKSTAT) bekannt gab, wurde von der staatlich unabhängigen Institution Inflation Research Group “ENAGrup” nach oben auf 82,81% korrigiert. In den letzten sechs Jahren haben sechs Vorsitzende in diesem Amt ihren Thron geräumt. Erst vergangene Woche wurde der bisherige Chef Dinçer von Erdoğan abgesägt. Dieser selbst hatte ihn noch im März zum Chef der TÜRKSTAT ernannt.

    Die Preiserhöhungen stehen den über 22% arbeitslosen Jugendlichen in der Türkei und insgesamt 3,4 Millionen Arbeiter:innen gegenüber, die weniger als den Mindestlohn erhalten. Hinzu kommen noch über 1,7 Millionen Arbeiter:innen, die monatlich unter 500 türkische Lira (TL) erhalten. Das entspricht aktuell rund 32 Euro.

    Kurierfahrer:innen lösen Streikwelle aus

    Die Arbeiter:innen von HepsiJet, Scotty, Aras Kargo, Sürat Kargo, Yurtiçi Kargo und Yemeksepeti Banabi sind seit Tagen im Streik. Auch die Lagerarbeiter:innen bei Migros legen an zwei Standorten die Arbeit nieder.

    Seit die Arbeiter:innen des Trendyol Express Unternehmens letzte Woche in den Streik getreten sind, hat sich eine Streikwelle durch das ganze Land gezogen. Sie akzeptieren die lächerliche Lohnerhöhung von 17% nicht! Einige ihrer Forderungen sind:

    • Mindestens 5.500 TL Nettolohn (entspricht aktuell 355 Euro).
    • Der Beruf soll dem Transportsektor zugeordnet werden.
    • Die gewerkschaftliche Organisierung ist ein Grundgesetz und soll vom Unternehmen auch so behandelt werden.
    • Kein:e Arbeiter:in soll gekündigt oder gemobbt werden.

    Doch das sind nicht alle Forderungen. Die Arbeiter:innen beschweren sich insbesondere darüber, dass sie oftmals als Freiberufler:innen tätig sind und deshalb keinerlei Absicherungen haben. So sagen Arbeiter:innen in einer BBC-Reportage: „Die Fahrzeuge gehören uns, alle Ausgaben müssen wir tragen, Sprit, Sozialversicherungen, Fahrzeugversicherungen, unsere Mahlzeiten, die Steuern – sprich von A-Z sind wir für alles verantwortlich und es interessiert niemanden, ob wir verunfallen und kein Geld mehr verdienen!“ „Sie interessieren sich nur für uns, solange wir Geld für sie verdienen.“

    Durch die Selbstständigkeit sind die Kuriere gesetzlich keine Arbeiter:innen, daher haben sie auch kein Gewerkschaftsrecht. Sie fordern daher die Aufhebung der Schein-Selbstständigkeit. Daneben haben sich viele Arbeiter:innen verschuldet, um in das Geschäft einzusteigen, da sie ihre Produktionsmittel, wie Motorräder, Ausrüstung usw. selbst kaufen mussten.

    Interessant ist, dass gerade die Pandemie und die Wirtschaftskrise viele Menschen in die sich rasant entwickelnde Liefer- und Logistikbranche gedrängt haben.

    Streiks kaum zu zählen

    Die Nachrichtenagentur Etha hat am 4. Februar bezüglich der Streiks folgende Formulierung gewählt: „Bereits zu Beginn des Jahres 2022 sind verschiedene Sektoren der Arbeiter:innenklasse gegen die ausbeuterischen Verhältnisse des Kapitalismus, gegen die Verarmung, gegen die Hungerlöhne, die Arbeitslosigkeit und gegen die Blockaden gegen Arbeiter:innen-Organisierungen in Bewegung getreten.“ Eine Auflistung über einige der bisher geführten Streiks finden sich in dem selben Artikel.  Aufgezählt werden Kämpfe von Flughafenarbeiter:innen, Journalist:innen bei BBC, Arbeiter:innen des Baugewerbes, der Textilbranche und der Petrochemie.

    Streik auf Istanbuler Flughafen: über 500 ArbeiterInnen festgenommen

    Bildung revolutionärer Gewerkschaften

    Aktuell können wir an vielen Orten beobachten, dass sich in der Türkei/Kurdistan neue Gewerkschaften bilden – Solche nämlich, die von Arbeiter:innen selbst organisiert werden, von jenen Arbeiter:innen, die sich aus dem Joch der gelben Gewerkschaften gelöst haben. Die Rede ist von der Bildung revolutionärer Gewerkschaften.

    Revolutionäre Gewerkschaften nutzen jeden legalen Spielraum, lassen sich aber nicht von der bürgerlichen Justiz beeinträchtigen. Sie richten sich nach der Frage der Legitimität. Sie warten nicht bis zum nächsten Tarifabschluss um zu streiken, sondern streiken dann, wenn es aus ihrer Sicht notwendig ist – und das, so lange es nötig ist, um die Forderungen durchzusetzen.

    Eine logische Konsequenz, wenn die alten System-Gewerkschaften nicht in den Streik treten und Kämpfe führen, die keine maßgeblichen Verbesserungen mit sich bringen, oder oft sogar reelle Verluste für die Arbeiter:innen bedeuten.

    Die wichtigsten Schlussfolgerungen für uns

    Auch in Deutschland müssen wir gegen die Teuerungen auf die Straßen gehen! Dabei müssen wir die treibende Kraft der Jugend für gesellschaftliche Veränderungen erkennen.

    Gerade in Phasen wie diesen müssen Kommunist:innen ihre Chance nutzen und die gelben Gewerkschaften entlarven. Wichtig ist, die Forderungen der Arbeiter:innen weiter nach vorne zu tragen und nicht hinter dem Mut der Arbeiter:innen zurück zu bleiben.

    Wir müssen Organisationen schaffen, in denen die Arbeiter:innen konsequent für ihre Interessen kämpfen können: Ähnlich wie die Streikwelle der Kuriere müssen wir die Probleme der „Einzelnen“ kollektivieren und aufzeigen, dass wir alle im selben Boot sitzen. Dabei dürfen wir uns weder anhand unserer Sektoren, noch anderweitig spalten lassen: Es gilt, die Einheit aller Arbeiter:innen, unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter und Migrationsgeschichte zu schaffen.

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