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Zeitung für Solidarität und Widerstand

Enteignet die russischen Oligarchen! Und alle anderen Kapitalist:innen?!

In Anbetracht des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine, werden zunehmend Stimmen lauter, die die „Oligarchen“ Russlands teils zum Handeln drängen, teils ihre Entmachtung und ihre Enteignung fordern. Doch wer sind diese ominösen „Oligarchen“ und was unterscheidet sie von westlichen Milliardär:innen (oder eben auch nicht)? – Ein Kommentar von Philipp Nazarenko

Der Begriff „Oligarch“ leitet sich aus dem Altgriechischen ab und bedeutet sowohl „Minderheit“ als auch „Herrscher“. Genutzt wurde er in der Antike, um eben jene Menschengruppe zu bezeichnen, welche die oben genannten Übersetzungen erfüllte. In der Regel handelte es sich bei dieser herrschenden Minderheit um die gesellschaftlichen Klassen der Sklavenhalter und Großgrundbesitzer.

Seit den 1990er Jahren, also seit der Auflösung der Sowjetunion, wird der Begriff „Oligarch“ meist polemisch als Bezeichnung für die neuen Wirtschaftseliten und Superreichen Russlands und der Ukraine verwendet. Die ökonomische Erfolgsgeschichte besagter Multimilliardäre geht in etwa so: Mit der politischen und wirtschaftlichen Umstrukturierung der Sowjetrepubliken unter Gorbatschow ergab sich für eine Minderheit der Bevölkerung die Gelegenheit, den ehemaligen Staatsbesitz an Betrieben, Fabriken, Rohstoffquellen, Gerätschaften und ähnlichem, exklusiv und zu sehr geringen Kosten (falls überhaupt) zu privatisieren.

Die Entstehung der russischen „Oligarchie“

Besagte Unternehmer unterhielten enge Verbindungen zu den neuen „demokratischen“ Staaten und Regierungen, ihre Firmen genossen privilegierte Behandlung in Form von Staatsaufträgen und Steuerbefreiungen. Die Ukraine und das Russland der 90er gelten nicht umsonst als einige der korruptesten Länder der ganzen Welt. So bestanden (bzw. bestehen) praktisch keinerlei Regulierungen für das Handeln dieser Großkonzerne, und so lange die Handlungen dem Staat nicht direkt zuwider liefen, wurde bei Gesetzesverstößen aktiv weggeschaut.

Die sogenannten „Oligarchen“ und ihre Familien (so spricht man oft von „Oligarchenclans“) durchdrangen und durchdringen immer noch sowohl die politischen Systeme, als auch die Märkte Russlands und der Ukraine.

Prominente Beispiele sind der ukrainische Schokoladenmagnat Petro Poroschenko (von 2014 bis 2019 Präsident der Ukraine), der Banker Serhij Tihipko (2010 bis 2014 stellvertretender Ministerpräsident der Ukraine), der Banker Wladimir Potanin (1995 bis 1997 stellvertretender Ministerpräsident Russlands) oder auch der FC Chelsea-Besitzer und Öl-und Gasmagnat Roman Abramowitsch (2000 bis 2008 russischer Gouverneur). Schon dieser kurze und vereinfachte Überblick dürfte die Situation in den beiden Ländern begreifbarer machen: Eine herrschende Klasse, bestehend aus den Besitzern von Großkonzernen, welche die wichtigsten politischen Ämter und Positionen in Staat und NGO’s besetzen, kontrollieren das politische und wirtschaftliche Leben in Russland und in der Ukraine.

Selbst wenn die Wirtschafts- und Polit-Eliten in Osteuropa durch ihren luxuriösen und verschwenderischen Lebensstil, umgeben von extremer Armut und Entbehrung, besonders hervorstechen mögen, so handelt es sich eigentlich doch um ein Bild, das auch deutschen, amerikanischen oder englischen Arbeiter:innen bekannt sein dürfte: Ob es nun die „Clans“ der Kennedys, der Bushs oder der Trumps sind, die den amerikanischen Präsidenten stellen, oder die Jeff Bezos, Steve Jobs und Elon Musks, die Wirtschaft und Medienlandschaft (welche sich, oh großer Schock, mehrheitlich in Privathand befindet) kontrollieren.

Jedem Menschen, der oder die hier nicht ideologisch bedingt die Augen verschließt, müssten die offensichtlichen Parallelen zwischen den „bösen Oligarchen“ Russlands und den „guten, Arbeitsplätze schaffenden, erfolgreichen Unternehmer:innen“ des Westens, klar erkennbar werden. Nun, zugegeben, hier in Deutschland fällt es etwas schwerer, so aus dem Stegreif Namen zu nennen.

Doch auch hier hilft eine einfache Recherche: So veröffentlicht zum Beispiel das „Lower Class Magazine“ eine Aufzählung der reichsten (und mitunter mächtigsten) Familien Deutschlands. Unter den Porträtierten finden sich Menschen wie Stefan Quandt, Multimilliardär und Hauptanteilshalter an der BMW-Aktiengesellschaft. Oder auch die Familie Reimann, die ein geschätztes Familienvermögen von über 32 Milliarden Euro besitzt und die Hauptanteilseigner am Kaffeehersteller Jacobs und an dutzenden weiteren Chemie- und Parfümeriekonzernen ist.

Was unterscheidet sie von Superreichen in Europa?

Was im internationalen Vergleich mit ihren amerikanischen oder russischen Counterparts ersichtlich wird, ist, dass die deutschen Wirtschaftseliten deutlich medienscheuer sind und meist auch keine öffentlichen politischen Ämter besetzen. Man muss den Kapitalist:innen in der BRD schon zugestehen: sie schaffen es besonders gut, ihre tatsächliche Macht und ihre Verstrickung mit der Politik, teilweise sogar ihre eigene Existenz als Klasse zu kaschieren.

Hierzulande übernehmen meist ihre Vertreter:innen die lästigen politischen Aufgaben, und kassieren dafür ordentliche „Aufwandsentschädigungen“.Sie finden sich in allen bürgerlichen Parteien, so z.B. Friedrich März (Vorsitzender der CDU und Chefaktionär beim Finanzunternehmen Blackrock) oder Sigmar Gabriel (ehemaliger deutscher Vizekanzler, ehemaliger Vorsitzender der SPD, heute im Aufsichtsrat der Deutschen Bank).

Doch auch diese Maskerade ändert nichts daran, dass auch hier in Deutschland, in der EU und auch in jedem anderen kapitalistischen Staat die Klasse der Kapitalist:innen das Sagen hat. Das macht ihre russischen Klassengeschwister und Konkurrenten weder unterstützenswert, noch in irgendeiner Weise schlimmer oder tyrannischer. In Zeiten des imperialistischen Krieges wie in der Ukraine, der offenen Manifestation des Konkurrenzkampfes, nicht der Werte oder der Systeme, sondern der Kapitalist:innen untereinander, kann es nicht in unserem Interesse als Arbeiter:innen liegen, sich für den Krieg gegen den angeblich „äußeren Feind“ instrumentalisieren zu lassen.

Auch wenn die russischen Kapitalist:innen die Feinde unserer Klasse im Allgemeinen sind, so steht unser Hauptfeind doch wie schon immer im eigenen Land! Nur international vereint können wir, die den Wohlstand auf der Welt erst schaffen, unsere Interessen verteidigen. Und das geht nur im Kampf gegen die Herrschenden in Deutschland, nicht im Bündnis mit ihnen gegen ihre Konkurrent:innen in Russland, China oder anderswo.

Phillipp Nazarenko
Phillipp Nazarenko
Sächsischer Perspektiveautor seit 2022 mit slawisch-jüdischem Migrationshintergrund. Geopolitik, deutsche Geschichte und der palästinensische Befreiungskampf Schwerpunkte, der Mops das Lieblingstier.

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