Seit dem Tod von Mahsa Amini findet im Iran ein Massenaufstand statt. Weltweit kommt es zu Solidarisierungen auf der Straße und in den sozialen Netzwerken. Wie kam es zum Mord? Wie entwickelten sich die Proteste? Welche Rolle spielen die kurdischen Gebiete? Und wie geht es weiter? – Ein Kommentar des iranischen Aktivisten Shoresh Karimi.
Mahsa Amini war auch als Jina Amini bekannt. Die 22-jährige Frau reiste aus Saqqez, einer kurdischen Stadt im Westen Irans, voller Hoffnung und Glück zu ihrer Familie nach Teheran. Mahsa wollte wie viele Jugendliche die Hauptstadt für ein paar Tage sehen, einkaufen und mit guten Erinnerungen in ihre Heimatstadt zurückkehren.
Aber die Feinde von Glück und Freude, die Frauenfeinde der Islamischen Republik, verhafteten sie, folterten sie und schickten die junge Mahsa innerhalb kürzester Zeit ins Koma. Mahsa wurde durch vorsätzlichen Regierungsmord für immer von ihren Eltern, Brüdern und Schwestern, Freunden und Bekannten getrennt.
Wie kam es zu dem Mord?
Am Dienstag, den 13. September ist Mahsa mit ihrem Bruder und einigen anderen jungen Menschen aus ihrer Familie unterwegs. Doch dann greift sie die Sittenpolizei an. Mahsa und ihr Bruder wehren sich. Grund für die Sittenpolizei durchzugreifen, ist die „unangemessene Kleidung“ Mahsas. Sie wird geschlagen und in ein Polizeiauto gezwungen. Nach einigen Stunden erfährt Mahsas Familie, dass Mahsa ins Koma gefallen ist.
Laut Ihrem Vater befanden sich auch andere Frauen im Polizeiauto, die ihm erzählten, dass die Polizisten Mahsa brutal geschlagen hätten. Denn Mahsa habe gesagt, dass sie eine Reisende sei und aus Kurdistan komme. Trotz der Drohungen und des Drucks der Geheimdienste der islamischen Regierung verbreitet Mahsas Familie jedoch anschließend den Übergriff in den Medien.
Drei Tage später, am Freitag, den 16. September stirbt Mahsa dann im Kasra-Krankenhaus in Teheran – vermutlich an den Folgen der Schläge. Ihr Tod löst breite Proteste in verschiedenen Teilen des Iran und der Welt aus.
Straßenproteste und 100 Millionen Tweets
Die Reaktionen auf ihre Ermordung in den Städten des Iran und in den sozialen Netzwerken ließen den persischen Hashtag #Mahsa_Amini zum globalen Trend werden. Er durchbrach die Grenze von 100 Millionen Tweets und Retweets. Ein Weltrekord in der Geschichte von Twitter. Ihre Ermordung wurde zum Ausgangspunkt für massenhafte Proteste gegen die Islamische Republik Iran.
Die Geheimdienste und die Medien des islamischen Regimes begannen mit Propaganda, um den Mord an Mahsa als „normal“ erscheinen zu lassen. Auch hier machte der Widerstand von Mahsas Familie alle Propaganda der Regierung wirkungslos. Die Regierung gab bekannt, dass Mahsa an einer Herzkrankheit leide. Aber Mahsas Vater verkündete tapfer, dass seine Tochter keine Krankheit habe und vollkommen gesund sei.
Die Regierungsbehörden erlaubten ihrer Familie zudem nicht, Mahsas Leichnam genau zu inspizieren. Laut Mahsas Vater waren an ihrem Körper Blutergüsse sichtbar gewesen. Die Geheimdienste der Regierung setzten ihre Familie unter Druck, die Leiche ohne die Anwesenheit der Öffentlichkeit zu begraben. Aber die Familie wehrte sich.
Der Widerstand von Mahsas Familie gegen die staatlichen Institutionen und seine unterdrückerische Ermordung inspirierten den Widerstand in der Gesellschaft.
Heftige Proteste entzünden sich in Mahsas Heimatstadt
Viele Kurd:innen, die seit langem gegen die islamische Regierung kämpfen, waren voller Wut und Abscheu. Als die Menschen in Saqqez, der Heimatstadt von Mahsa, erfuhren, dass ihre Leiche am Samstag 17. September morgens dort ankommen würde, versammelten sie sich nachts. Zehntausende Menschen warteten auf Mahsas Leiche.
Die Einwohner der Stadt begannen auf dem Friedhof mit Parolen gegen die Islamische Republik Iran wie „Nieder, nieder, islamische Regierung“, „Frauen, Leben, Freiheit“, „Von Kurdistan bis Teheran – Diskriminierung gegen Frauen“ und „Patriarchat und Kapitalismus sind die Ursache dieser Misere“.
Während Mahsas Beerdigung verlasen Frauen eine Erklärung, in der sie die Grundrechte der Frau verteidigten. Frauen warfen ihre Hidjabs weg und sprachen sich gegen die geschlechtliche Diskriminierung von Frauen aus. Sie erlaubten den Mullahs nicht, die routinemäßige islamische Zeremonie durchzuführen.
Nach der Beerdigung zogen Tausende von Menschen in die Stadt Saqqez. Sie wollten gegen den Gouverneur der Stadt protestieren. Doch die Polizei eröffnete das Feuer auf die Demonstrant:innen. Viele wurden verletzt und eine Person wurde getötet. Die Menschen wurden wütender und begannen Widerstand zu leisten. Die Nachricht von dem neuen Verbrechen der Regierung erreichte andere Städte in Kurdistan.
Proteste weiten sich aus
In Sanandaj, der Hauptstadt der kurdischen Gebiete, gingen am Samstag, den 17. September Tausende im Protest gegen den Mord an Mahsa und zur Unterstützung der Demonstrationen in der Stadt Saqqez auf die Straße. Sie protestierten trotz der großen Präsenz von Polizeikräften.
Doch die Streitkräfte der Islamischen Republik Iran ließen die friedliche Demonstration der Bevölkerung von Sanandaj nicht zu und wollten sie schnell unterdrücken. Aber die Jugend der Stadt war extrem wütend und wehrte sich: „Kurdistan wird das Grab des Faschismus sein“, „Nieder, nieder, islamische Regierung“ und „Frauen, Leben, Freiheit“ schallte es auch hier durch die Stadt. Die Demonstration entwickelte sich zu einem Straßenkampf gegen die Regimekräfte und dauerte bis spät in die Nacht.
Am nächsten Tag protestierten dann Student:innen der Teheraner Universität. Sie wiederholten die Parolen der Menschen in Kurdistan. Sie riefen laut: „Von Kurdistan bis Teheran – Diskriminerung gegen Frauen“ und „Kurdistan, Kurdistan, Irans Auge und Licht“.
Vom Generalstreik in Kurdistan zur landesweiten Bewegung
„Komala“, die kurdische Organisation der Kommunistischen Partei des Iran rief dann in Zusammenarbeit mit anderen Parteien Kurdistans für Montag, den 19. September zu einem landesweiten Generalstreik in allen Städten Kurdistans auf. Sie wurden komplett heruntergefahren. Der Generalstreik war wie ein Referendum und zeigte: die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung ist gegen die Regierung. Diese Taktik verwirrte die Sicherheitskräfte der Regierung.
Im Anschluss an den Generalstreik, als es dunkel wurde, besetzte die Jugend die Straßen. Am selben Tag veranstalteten Student:innen großer Universitäten Protestkundgebungen in iranischen Städten. Alle waren gegen den verpflichtenden Hidjab, systematische Diskriminierung und die diktatorische Herrschaft gerichtet.
Diese Proteste haben sich seit Dienstag, dem 20. September weit verbreitet. Aktionen fanden in 85 Städten und 29 Provinzen des Landes statt – einschließlich großer Städte wie Teheran, Isfahan, Tabriz, Kermanshah, Ilam, Rasht, Urmia, Ahvaz und Hamadan.
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Die Rolle der Frauen
In den meisten dieser Protestaktionen stehen Frauen an vorderster Front des Kampfes. Sie verbrennen ihren Hidjab, der im Iran ein Symbol für die Diskriminierung von Frauen ist. Sie stellen sich gegen die Unterdrücker des Regimes und feiern ihre Freiheit auf der Straße ohne Anwesenheit der Sittenpolizei.
Das islamische kapitalistische Regime hatte während der 43 Jahre seiner Herrschaft versucht, gehorsame Frauen zu erziehen. Die folgenden Taten sind eine kleine Aufzählung von Verbrechen, die die Islamischen Republik gegen Frauen verübt hat:
- Das Töten von Frauen unter dem Vorwand von Ehre, Eifersucht und der Scharia ist Teil des Regierungsprogramms.
- Zwangsverheiratungen von Mädchen unter dreizehn Jahren finden statt.
- Tausende von Moralpolizeieinheiten wurden eingerichtet, um die Kleidung und das Aussehen von Frauen zu kontrollieren.
- Verhaftung, Demütigung und Belästigung von Frauen, die nicht die vorgeschriebene Kleidung tragen, finden regelmäßig statt.
- Es kommt zu Inhaftierung von Aktivistinnen der Frauenbewegung und dem Verhängen schwerer mittelalterlicher Strafen.
- Es herrscht Geschlechtertrennung in Schulen, Bussen und öffentlichen Verkehrsmitteln.
- Es gibt das Verbot, sich mit dem anderen Geschlecht zu treffen mit der Androhung einer schweren Strafe bei Zuwiderhandlung.
- Frauen im Iran dürfen sich nicht einseitig scheiden lassen. In Rechts- und Strafgesetzen gelten sie als Halbmenschen.
Dies sind die Tatsachen systematischer Unterdrückung und Diskriminierung, denen die Frauen im Iran ausgesetzt sind. Aber die Ereignisse der vergangenen Woche haben alle Grundlagen der Diskriminierung von Frauen durch die Regierung erschüttert. Das Regime konnte nur noch mit Repression reagieren.
Mindestens 50 Menschen ermordet
Als Reaktion auf die Proteste tötete die Islamische Republik mehr als 50 Menschen, darunter vier Kinder. Auch das Internet und soziale Netzwerke wurden weitgehend gesperrt. Der Einsatz von Gewalt durch die Regierung im Umgang mit Demonstrant:innen ist sehr umfassend. So wurden in verschiedenen Städten von Sicherheitsmilizen direkt auf Demonstrant:innen geschossen und zudem wurden tausende von Menschen infolge der Repression verletzt.
Die Regierung hat ihre Legitimität bei der Mehrheit der Gesellschaft verloren. Armut, weit verbreitete Korruption, Diskriminierung von Frauen und religiösen und nationalen Minderheiten, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit von Millionen von Hochschulabsolventen, Kriegshetze in der Region, Klassenspaltung, Unterdrückung und Ineffizienz haben die Gesellschaft in eine revolutionäre Ära geführt.
Die Regierung kann die Macht nur mit Gewalt aufrecht erhalten. Diese Macht gerät bei den jüngsten Demonstrationen aber an ihre Grenzen. Doch es fehlt noch an Organisation.
Organisation und Führung notwendig
Da es im Iran keine Meinungs-, Parteien- und Organisationsfreiheit gibt, werden diese Proteste einfach offen geführt. Es gibt keine zentralisierte Führung. Dadurch ist eine schnelle Repression für die Regierung aber ebenfalls nicht einfach.
Trotz dieser Tatsache hat die Regierung in den letzten Tagen tausende von Aktivist:innen aus der Frauenbewegung, der Lehrer:innenbewegung, der Arbeiter:innenbewegung, der Umweltbewegung oder der Bewegung der Minderheiten festgenommen. Doch durch die breite Beteiligung der Bevölkerung hat die Repressionskraft des Regimes ihre Fokussierung verloren.
Aber neben einem starken Bewusstsein sind auch Organisation und Führung notwendig, um die Revolution zu vollenden. Linke, sozialistische und fortschrittliche Kräfte sind im Iran stark. Aufgrund der heftigen Unterdrückung der fortschrittlichen Kräfte durch die islamische Regierung und der mangelnden Freiheit der politischen Parteien ist diese Bewegung jedoch bedroht.
Der Westen ist kein Verbündeter
Eines der Risiken besteht darin, dass mit der Regierung verbundene Militärkräfte einen Putsch durchführen könnten, das Kriegsrecht verhängen und eine Weile an der Macht bleiben.
Eine soziale Alternative hat sich in der iranischen Gesellschaft noch nicht herausgebildet und kann deshalb einfach unterdrückt werden. Die Proteste haben aber das Potenzial, dass daraus eine linke und sozialistische Alternative entstehen kann – wenn dieser Prozess nicht von den Westmächten unterbrochen wird, wie bei der Revolution von 1979 im Iran.
Die Revolution führte damals zur Absetzung von Schah Mohammad Reza Pahlavi und zur Beendigung der Monarchie im Iran. Doch damals einigten sich die großen westlichen Länder auf der Guadaloupe-Konferenz auf die Ermächtigung islamischer Kräfte. Die Westmächte übergaben in Zusammenarbeit mit den westlichen Spionagediensten Armee, Geheimpolizei, Radio und Fernsehen an die islamischen Kräfte und diese exekutierten und erschossen die linken, sozialistischen und fortschrittlichen Kräfte.
Aktuell fördert Amerika nun wiederum die monarchistischen Kräfte im Iran, indem es riesige Gelder ausgibt und große Radio- und Fernsehnachrichtenfirmen ausstattet. In den vergangenen Tagen hat der Sohn des ehemaligen Schahs von Iran ein Treffen mit Vertretern der Europäischen Union abgehalten, was viele linke und fortschrittliche Kräfte im Iran beunruhigt.
Deshalb ist für uns die Solidarität weltweit, insbesondere in Deutschland, sehr wichtig und entscheidend. Schließen Sie sich unseren Versammlungen, Medien und Kämpfen an, damit wir die Islamische Republik Iran durch soziale Revolution stürzen und eine Gesellschaft frei von Unterdrückung und Ausbeutung aufbauen können.