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Freitag, April 26, 2024
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    Sie sind ein Philister vor dem Herrn!

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    Herr Witschas, ich hatte nicht damit gerechnet, kurz vor dem Fest der Nächstenliebe eine Hasspredigt aus Bautzen hören zu müssen. Aber ausgerechnet ein sogenannter „Christdemokrat“ hat mich eines Besseren belehrt. Herr Witschas, Ihre „Weihnachtsbotschaft“ vom 21.12.2022 – nur drei Tage vor Heiligabend – hat mich dazu genötigt, Ihnen zu antworten. Ein offener Brief von Mariya Kargar.

    Als Parteimitglied der CDU, der Christlich Demokratischen Union, zeigen sie hier deutlich, wie es um die „christliche Nächstenliebe“ und die „Demokratie“ in Ihren Reihen bestellt ist. Das ist nicht das erste Mal, dass wir solche rassistischen, undemokratischen und menschenfeindlichen Reden wie die Ihre von deutschen Politiker:innen hören.

    Gerade sich „christlich“ gebende Parteien finden immer wieder Anlässe, diese Werte ihres Erlösers mit Füßen zu treten. Unter dem Vorwand, das sogenannte „Abendland“ zu verteidigen, wettern sie immer wieder ausgerechnet gegen Nächstenliebe und Grundwerte der Demokratie.

    Es sollte mich also wohl nicht überraschen, dass Sie drei Tage vor Heilligabend die Gelegenheit einer Weihnachtsansprache nutzen, um öffentlich zu verkünden, Geflüchteten Zugang zu einer eigenen Wohnung zu gewähren, würde den “sozialen Frieden” in Bautzen gefährden.

    Sie schämen sich nicht für ihre Hasspredigt, in der Sie Menschen einzig aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion und ihrer Herkunft abgewertet, ausgeschlossen und entwürdigt haben. Sie schämen sich nicht für die Verbrechen des NSU, für das Oktoberfest-Attentat, für die Anschläge von Halle und Hanau – allesamt durch „Verteidiger des Abendlandes“ begangen. Sie schämen sich nicht für die Ermordung von über 200 unschuldigen Menschen durch Faschist:innen, die aufgrund solch gefährlicher Hetze wie der Ihren ihr Leben verloren haben.

    Sie sollten sich als „Christdemokrat“ für ihre unchristlichen und undemokratischen Worte schämen! Aber wie unzählige andere von Ihrem Schlag kennen Sie keine Reue und keine Scham, wenn sie die edelsten Werte des Abendlandes besudeln, denn Sie sind offenbar höchstens ein „verotteter Christ“, wie Bertolt Brecht einst schrieb, der „seinen Bruder verschachern würde“. Sie sind keineswegs nur irgendein konservativer Politiker, der sich in seiner Trunkenheit verplappert und es sogleich bereut.

    Herr Witschas, haben Sie, als Sie in der Ausländerbehörde gearbeitet haben, die furchtbaren Bedingungen, in denen die Geflüchteten monate- oder jahrelang leben müssen, persönlich inspiziert? Haben sie da auch nur einmal ein Flüchtlingslager besucht, um mit den Geflüchteten selbst das Brot zu teilen? Haben sie auch nur die geringste Ahnung, wie es geflüchteten Menschen allgemein, besonders aber den Frauen und Kindern in den Lagern, geht?

    Haben Sie je an die beiden palästinensischen Flüchtlinge gedacht, die man in Deutschland als Maria und Josef kennt und verehrt und deren Sohn Jesus die Grundlage für Ihre Religion bildet? Nein? Natürlich haben Sie das nicht.

    Ihre Verstrickungen mit faschistischen Kräften wie der NPD waren so eng, dass Sie sogar Ihren Job als Chef der Bautzner Ausländerbehörde verloren haben. Es lässt tief blicken, dass Sie selbst für eine Behörde, deren ureigenste Aufgabe es ist, uns Migrant:innen das Leben so schwer wie möglich zu machen, zu rassistisch waren.

    Ich will es Ihnen ehrlich sagen: Sie erinnern mich an die heuchlerischsten Hassprediger und Anti-Demokraten, wie man sie in dem Land, aus dem ich flüchten musste, zuhauf findet. Sie erinnern mich an die menschenverachtenden Mullahs im Iran, die mich als Frau und Kurdin gejagt und unterdrückt haben. Sie, Herr Witschas, scheinen mir den Werten dieser Mullahs näher als denen der christlichen Nächstenliebe zu stehen.

    Lassen sie mich Ihnen erzählen, wie es mir als geflüchteter Frau in einem zentralen Auffanglager erging. Das Lager war acht Kilometer von der Stadt entfernt. In den ersten drei Monaten der Erstaufnahme konnte ich nicht mehr als zwei bis drei Stunden pro Nacht schlafen, weil ich mit hunderten Menschen eingesperrt war. Man lebte dort in absoluter Isolation vom Rest der Gesellschaft, in Verwirrung, in Angst und litt an ständigem Stress und an der größten Verzweiflung angesichts der Ungewissheit über das eigene Schicksal.

    Ich war einer von knapp tausend Menschen im Lager, die nicht wussten, was mit Ihnen passieren und wer mit welchem Maßstab über ihr Schicksal entscheiden würde; einer der Menschen, denen man die Beschäftigung und die Würde verwehrte; einer der Menschen, denen man täglich das Gefühl gab, dass sie einfach nicht dazu gehörten; einer der Menschen, die man demütigte, um sie „christliche“ Demut zu lehren.

    In diesem Lager lebten hunderte Männer; Männer, die sich fast täglich aus Angst, Stress und Verwirrung betranken und abends an den Türen der Frauen klopften, um sie zu bedrängen; Männer, die uns Frauen damit zwangen, die Tür abends immer abschließen und uns zur Sicherheit zu bewaffnen.

    So musste ich angesichts dieser Gefahrenlage neun Monate lang mit einem Messer in der Hand das WC aufsuchen. Neun Monate lang weinte ich fast täglich, weil ich meine damals dreijährige Tochter verlassen hatte, mich auf den Weg ins „gelobte Abendland“ zu machen, welches wir Frauen aus Ländern wie dem Iran uns gerne als besonders zivilisiert, liberal und demokratisch vorstellen.

    Aber bevor sie die geflüchteten Männer aus Westasien und Osteuropa beschuldigen, lassen Sie mich sagen: Ich zweifel nicht daran, dass Sie sich in solch erbärmlichen und beengten Verhältnissen zweifellos genauso benehmen würden – vielleicht sogar noch schlimmer. Nein, Herr Witschas, nicht die geflüchteten Männer an sich waren das Problem.

    Ich hatte neun Monate lang als Frau keine Privatsphäre, keine einzige Möglichkeit mich zu entwickeln und mit der neuen Gesellschaft Kontakt aufzunehmen. Neun Monate lang litt ich an der absoluten Isolation und an Depressionen. Neun Monate lang habe ich jeden Tag den Rassismus und Chauvinismus der Sozialarbeiterin, der Wache, des Küchen- und Reinigungspersonals erlebt.

    Herr Witschas, aus diesem Grund kann ich Ihnen sagen, dass Ihre Aussage, dass die Geflüchteten isoliert und in Lagern eingesperrt müssen und nicht dezentral untergebracht werden dürfen, weil sie eine Gefahr für den sozialen Frieden seien, nichts als eine – um es mit christlicher Sprache zu sagen – teuflische Lüge ist.

    Die Lager machen aus ursprünglich friedlichen, klugen, kreativen, produktiven und fleißigen Menschen sogar ganz im Gegenteil aggressive, depressive und zutiefst entfremdete Menschen – und genau dafür ist dieses Lagersystem da!

    Die zentralen Lager produzieren erst die Phänomene, mit denen dann rassistische und fremdenfeindliche Ressentiments bedient werden. Sie, Herr Witschas, sind ein echter Kajaphas, ein Philister vor dem Herrn.

    Um mit Goethe, einem der berühmtesten Vertreter abendländischer Kultur zu schließen: „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.“ Ich hoffe es; ich hoffe von Herzen, dass es keine lange Zukunft für dieses „christliche Abendland“ mit dieser heuchlerischen Doppelmoral, seinen Lagersystemen und seinem Rassismus gibt.

     

    • Perspektive-Autorin seit 2018 und geflüchtete kurdische Journalistin. Schwerpunkte sind Rassismus, Frauenkämpfe und Internationalismus.

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