Seit Ende 2022 gehen hunderttausende Arbeiter:innen in Großbritannien immer wieder auf die Straße. Mit Streiks und Demonstrationen protestieren sie gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf ihren Rücken und gegen die geplante Einschränkung des Streikrechts. Allein am 1. Februar haben mehr als 500.000 Arbeiter:innen aus verschiedenen Branchen gestreikt. – Einer von ihnen ist John, Aktivist der Gewerkschaft UNISON, der in London im Hochschulbereich arbeitet.
Du bist Gewerkschaftsaktivist und hast an den aktuellen Streiks teilgenommen. Wofür habt ihr gestreikt?
In meiner Branche wurden die Löhne und Gehälter in den letzten zehn Jahren um etwa ein Viertel gekürzt. Das gilt für alle Beschäftigten an den Universitäten, nicht nur für das Lehrpersonal. Außerdem sind die Finanzmittel für die Universitäten seit der Marktöffnung des Sektors im Jahr 2011 massiv zurückgegangen. Infolgedessen wurden nicht nur die Gehälter gekürzt, auch die Arbeitsbedingungen haben sich verschlechtert. An vielen Universitäten wurden „Umstrukturierungen“ vorgenommen, um die Profite zu erhöhen. Diese Umstrukturierungen führen zu einer Verschlechterung der Situation für die Beschäftigten und die Studierenden. Der Hochschulbildung in diesem Land wurde enormer Schaden zugefügt, und ich denke, dass dies mehr Arbeiter:innen dazu veranlasst, ihren Gewerkschaften beizutreten und zu streiken, selbst wenn sie von weniger radikalen Gewerkschaften wie der Dozentengewerkschaft UCU vertreten werden.
Seit Monaten streiken die Arbeiter:innen. Warum gibt es zur Zeit eine so starke Streikbewegung?
Zusätzlich zur allgemeinen Wirtschaftskrise, an deren Entstehung und Verschärfung die Tories (Konservative Partei) einen großen Anteil haben, reagieren sie mit Angriffen auf die öffentlichen Dienste. Die Beschäftigten in diesen Bereichen haben durch mehrere Wellen von Haushaltskürzungen in Verbindung mit Sparmaßnahmen einen hohen Preis gezahlt. Diese Kürzungen haben massive Auswirkungen auf die Arbeit, die wir leisten und auf die Menschen, die wir unterstützen. Viele von uns können es einfach nicht mehr ertragen.
Verschiedene Gewerkschaften rufen im Februar und März zu mehrtägigen Streiks auf. Kannst du uns etwas dazu sagen?
Im Hochschulbereich wurde dies vor allem von der Dozenten- und Lehrergewerkschaft UCU angeführt, aber im gesamten öffentlichen Dienst stehen diese Streiks im Zusammenhang mit der Ablehnung von Gehaltsangeboten, die weit, weit unter der Inflationsrate liegen, und auch mit den anstehenden Verhandlungen über die Gehaltsangebote für das nächste Jahr.
Jetzt ist ein entscheidender Zeitpunkt für diese Verhandlungen, da die beiden wichtigsten Gewerkschaften im Hochschulbereich das letztjährige Gehaltsangebot abgelehnt haben und die Verhandlungen ins Stocken geraten sind. Die UCU wird landesweit streiken, und viele Zweigstellen der UNISON werden in dieser Zeit ebenfalls einen Arbeitskampf führen.
Welche Rolle spielen die Regierung und die Labour Partei und wie stehen sie zu den Streiks?
Die Regierung hat alles getan, um die Verhandlungen mit den Gewerkschaften zu stören. Dies zeigt sich insbesondere bei den Bahnstreiks, bei denen der Verkehrsminister, der letztlich die Verantwortung dafür trägt, was bei der Bahn geschieht und was nicht, den Eisenbahnunternehmen nicht die Genehmigung gibt, eine Vereinbarung zur Beendigung dieser Streiks zu treffen.
Um die Aussicht auf weitere Streiks im öffentlichen Dienst wirklich zu beenden, müsste die Regierung ein Jahrzehnt der Sparmaßnahmen rückgängig machen und den öffentlichen Dienst in einer Weise grundlegend umgestalten, die sie aus ideologischen Gründen zutiefst ablehnt: indem sie z.B. die Rolle der Privatwirtschaft in weiten Teilen des Bereichs einschränkt und ihn angemessen durch Steuern finanziert.
Die Labour Partei ist in dieser Hinsicht kein Freund der Gewerkschaften gewesen. Zu oft bleibt sie untätig, wenn wir in unseren Auseinandersetzungen politische Unterstützung brauchen. Ein paar linke Abgeordnete zeigen sich zwarsolidarisch und das ist auch gut so, aber unsere Bewegung braucht eine viel, viel bessere politische Vertretung.
Was hat es mit dem neu angekündigten Streikgesetz auf sich?
Seit den Tagen von Margaret Thatcher hat die Tory-Partei auf eine Zunahme der gewerkschaftlichen Militanz mit autoritären Mitteln reagiert. Wir haben das bei der brutalen Niederschlagung der Streiks der Minenarbeiter in den 1980er Jahren gesehen. Dies ermöglichte ihnen auch die Umstrukturierung der Wirtschaft von ihrer ursprünglichen, im Sterben liegenden Herstellungsbasis hin zu einer neuen, schlecht bezahlten Dienstleistungswirtschaft, verbunden mit Finanzdienstleistungen. Es überrascht nicht, dass die Umsetzung der Austeritätspolitik seit 2010 ebenfalls mit neuen, repressiven Gewerkschaftsgesetzen verbunden war, die Streiks erschwert haben. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Regierung versucht, den Einfluss der Organisationen zu begrenzen, welche die Arbeiter:innen am Arbeitsplatz vertreten – nämlich als Reaktion auf die Arbeiter:innen, die in der aktuellen Krise verzweifelt darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Die Regierung will die Entlassung von Arbeiter:innen, die von ihrem gesetzlichen Streikrecht Gebrauch machen, legalisieren und in einer Reihe von Branchen „Mindestleistungsstandards“ durchsetzen. Dies würde die Möglichkeiten der Arbeiter:innen, effektiv zu streiken, erheblich einschränken und es der Regierung letztendlich ermöglichen, noch schädlichere und repressivere Maßnahmen durchzusetzen, die die Arbeiter:innenklasse angreifen.
Hier sind die Gewerkschaften nicht so militant wie bei euch, sie schließen mit den Chef:innen Verträge, ohne über einen Inflationsausgleich für die Arbeiter:innen zu diskutieren. Was denkst du darüber?
Meiner Meinung nach sind wir in vielen Bereichen nur deshalb in der schlechten Lage, in der wir uns jetzt befinden, weil unsere Gewerkschaftsbewegung zehn Jahre lang nicht kämpferisch genug gegen die Austeritätspolitik der Tories gekämpft hat. Ich bin froh, dass sich die Dinge ändern, denn wir brauchen auch eine starke politische Vertretung, die weit über das hinausgeht, was die Labour Party bereit und in der Lage ist, zu leisten.
Eine Sache, die ich für unerlässlich halte, ist eine bessere Koordinierung zwischen den Gewerkschaften sowohl innerhalb einer Branche als auch branchenübergreifend. Der 1. Februar war ein guter Anfang dafür, da viele Gewerkschaften gleichzeitig gestreikt haben. Leider ist der Aufruf zu Solidaritätsstreiks in Großbritannien illegal. Ein entscheidendes Ziel für unsere Bewegung muss es sein, die gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung, die unsere Bewegung jahrzehntelang behindert hat, vollständig rückgängig zu machen. Gleichzeitig müssen wir neue, erfolgreichere Organisationsmethoden erproben und die Unternehmen mit solchen neuen Methoden unter Druck setzen, um unsere Forderungen durchzusetzen.