Texte, in denen Till Lindemann Gewalt- und Vergewaltigungsphantasien gegen Frauen äußert, sind nichts Neues. Nun melden sich Frauen, die schwere Vorwürfe gegen Lindemann äußern. Es offenbart sich ein ausbeuterisches System auf den Rammstein-Konzerten. Die Rede ist von rekrutierten Frauen für die „Row-Zero“ und Aftershowpartys, auf denen die Frauen Sex mit dem Rammstein-Sänger haben sollen. – Ein Kommentar von Susana Moreno
Vorwürfe der sexuellen Gewalt gegen Till Lindemann
Die 24-Jährige Irin Shelby Lynn machte vor einigen Wochen erschreckende Erfahrungen auf einem Rammstein-Konzert publik.
Auf einem Konzert von Rammstein in Vilnius, der Hauptstadt von Litauen, sei sie zu einer privaten Party im Anschluss an das Konzert eingeladen worden, auf der sie auf Till Lindemann gestoßen sei. Eigenen Angaben zufolge, soll dieser sie zu Sex aufgefordert und wütend reagiert haben, als sie ablehnte.
Weitere Erinnerungen an den Abend hat die 24-Jährige nicht mehr. Sie vermutet, dass ihr auf der Party Drogen verabreicht wurden. Von wem, wisse sie zwar nicht, äußert jedoch, von Till Lindemann selbst einen Tequila-Shot erhalten zu haben. Sie berichtet von anschließendem Erbrechen, Schwindel, Zittern und Schüttelfrost und zeigt auf ihren Social-Media-Kanälen die Blutergüsse an ihrem ganzen Körper. Sie stellte in einem Twitter-Post klar, dass sie nicht von ihm angefasst worden sei.
Nachdem die litauische Polizei ihre Erzählungen zunächst nicht ernst nahm, wurde sie über fünf Stunden vernommen. Die Polizei möchte nun prüfen, ob sie dem Fall weiter nachgeht oder nicht. Mit diesen Posts brachte die Irin dennoch einen Stein ins Rollen, der nicht mehr aufzuhalten ist. Auf ihrem Instagram-Account @shelby69666 sammelt sie in ihren Highlights eine Reihe von Erfahrungsberichten weiterer Frauen, die ähnliches erlebt haben.
Weitere Betroffene äußern sich
Mehrere Frauen reagierten auf den Post von Shelby Lynn und äußerten ähnliche Erfahrungen. Recherchen von NDR und SZ berichteten dann von einem System, in dem Frauen gezielt für die „Row-Zero“- und Afterpartys rekrutiert werden, die speziell für Till Lindemann organisiert werden. Einigen soll kommuniziert worden sein, dass sie nur Zugang zu den Partys erhalten würden, wenn sie bereit seien, dort mit dem Rammstein-Frontsänger Sex haben.
Betroffene sprechen davon, gezielt angesprochen oder im Vorfeld des Konzertes angeschrieben worden zu sein. In diesen Nachrichten sollen sie dazu aufgefordert worden sein, sich möglichst attraktiv zurecht zu machen. Auch sprechen sie davon, dass sie Bilder von sich schicken sollten, in anderen Fällen seien auf den Konzerten Videos von ihnen gemacht worden. Obwohl es auf diesen Partys um Sex mit Till Lindemann gehe und auch Alkohol ausgeschenkt werde, seien einige von ihnen nicht einmal nach ihrem Alter gefragt worden.
In einem Gespräch mit NDR und der SZ äußert die damals 22-jährige Cynthia A., dass es auf einer solchen Party zu Sex mit Till Lindemann gekommen sei. Sie habe bei dem Sex Schmerzen gehabt und es über sich ergehen lassen. Sie schildert, dass es „ziemlich schnell und ziemlich gewaltvoll“ gewesen sei.
Eine weitere Betroffene äußert unter dem Pseudonym Kaya R., nach einer solchen Aftershow-Party erst auf einem Hotelbett wieder zu Bewusstsein gekommen zu sein. Als sie wieder zu sich kam, habe Till Lindemann auf ihr gelegen und habe sie gefragt, ob er aufhören solle. Sie verstand zunächst nicht, was passiert war.
Eine VIP-Mitarbeiterin des Rammstein-Konzerts bestätigt im Zuge der Recherchen solche Partys und äußert, dass sie beobachtet habe, wie Frauen aus kleinen, abgeschlossenen Räumen gekommen seien, die für „solche private Aktivitäten“ genutzt worden wären. Schon jahrelang habe sie ein schlechtes Gewissen deswegen.
Till Lindemann weißt alle Vorwürfe zurück und hat ein professionelles Anwaltsteam eingeschaltet.
Machtgefälle und Ausbeutung von Frauen
Da es sich bei Till Lindemann um eine Person mit viel Ruhm und Geld handelt, besteht zwischen ihm und seinen Fans ein Machtgefälle. Die Fan-Künstler-Beziehung ist also eine Beziehung, mit der von Seiten des Künstlers besonders sensibel und verantwortungsbewusst umgegangen werden muss. Diese Machtdynamik darf von keinem Künstler ausgenutzt werden, um Frauen zum Sex zu bewegen.
Auch bei der Betroffenen Cynthia A. spielte es eine Rolle, dass es um die Person Till Lindemann ging. Aufgrund der beschriebenen Machtdynamik zwischen dem Rammstein-Sänger und seinen Fans hatte sich die Betroffene zunächst nicht zu dem schmerzhaften Sex mit Lindemann geäußert. Damals habe sie sich in dieser Situation zwar extrem unwohl gefühlt, konnte allerdings erst später davon sprechen, dass es sich hierbei um einen sexuellen Übergriff und einen Machtmissbrauch gehandelt hat.
Vergewaltigungs- und Gewaltfantasien gegen Frauen in den Texten von Till Lindemann
Till Lindemann ist in der Vergangenheit bereits mehrfach mit Texten aufgefallen, in denen er Gewaltfantasien gegen Frauen äußert. Beispiele dafür sind in dem Lied „Ich tu dir weh“, „Knebel“, „Bück dich“ oder „Weisses Fleisch“ zu finden. Hierin äußert er sadomasochistische Fantasien bis hin zu deutlichen Vergewaltigungsfantasien.
2020 veröffentlichte er das Gedicht „Wenn du schläfst“, in dem ebenfalls seine Vergewaltigungsfantasien deutlich werden. Das Gedicht wurde in einer Gedichtsammlung vom renomierten Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht. Auch wenn es für eine große mediale Debatte sorgte, stellte sich der Verlag zunächst hinter Till Lindemann und verteidigte die Veröffentlichung des Gedichts mit der Trennung des sog. „lyrischen Ichs“ mit der Person Till Lindemanns.
Nach den aktuellen Vorwürfen trennt sich der Verlag nun allerdings von Till Lindemann. Dazu veröffentlichte er auf seiner Website und seinen Social-Media-Kanälen ein Statement, in dem die Verantwortlichen äußern, dass ihr Mitgefühl und Respekt den betroffenen Frauen gelte.
Rammstein äußert sich
Auf deren Twitter-Kanal äußerte sich die Rammstein kurz nach dem Aufkommen der Vorwürfe selbst und schrieb folgendes: „Zu den im Netz kursierenden Vorwürfen zu Vilnius können wir ausschließen, dass sich, was behauptet wird, in unserem Umfeld zugetragen hat. Uns sind keine behördlichen Ermittlungen dazu bekannt.“
In einem späteren Instagram-Post schreibt die Band, dass bei den Fans „Irritationen und Fragen“ aufgekommen seien. Die Vorwürfe hätten sie „alle sehr getroffen“ und sie würden sie „außerordentlich ernst“ nehmen. In dem Statement appellieren sie jedoch ebenfalls an die Öffentlichkeit, dass sie das Recht hätten, nicht vorverurteilt zu werden.
Dass sie in gleichem Statement äußern, dass die betroffenen Frauen natürlich ein Recht auf „ihre Sicht der Dinge haben“, muss den misshandelten Frauen wie eine Verhöhnung vorkommen.
Frauensolidarität statt Victim Blaming und Täterschutz
Im Netz spricht man von der Unschuldsvermutung, die für auch Till Lindemann gelten müsse. Zudem gibt es zahlreiche neue Instagram-Accounts, die „Gerechtigkeit“ für Rammstein einfordern – darunter auch viele weibliche Fans. Die Soli-Kampagnen für Lindemann und gegen die Betroffenen sollen den Quellen von NDR und SZ zufolge aus dem Umfeld von Till Lindemann stammen.
Alena M., die sich selbst als „Casting-Direktorin“ bezeichnet, soll nicht nur die Frauen für die Afterparty rekrutiert haben, sondern bittet nun auch die Fans um Posts unter dem Hashtag #justiceforrammstein. Auch die ehemalige Partnerin von Lindemann, Sophia Thomalla, stellt sich auf die Seite Lindemanns und spricht von frei erfundenen Vorwürfen „von einer Person, die sich auf dem Rücken eines Rockstars für fünf Minuten Ruhm verschaffen möchte“.
Erfahrungsgemäß haben Betroffene in Fällen sexualisierter Gewalt sehr viel weniger Gründe zu lügen als die beschuldigten Täter. Leidtragende, die Erlebnisse mit sexualisierter Gewalt publik machen, geraten in der Regel in ein Kreuzfeuer, sind diffamierenden Aussagen ausgesetzt, die sich in der Regel für sie sehr schmerzlich anfühlen und das Trauma wiederholen. Wenn sich Betroffene gegen sexualisierte Gewalt wehren, ist dies also kein Spaß und erst recht tun sie dies nicht, um an Ruhm zu gelangen, so wie es Sophia Thomalla der Irin vorwirft. In erster Linie sollte also den Missbrauchten geglaubt werden, anstelle sich auf die Seite des Täters zu schlagen. Dies ist der erste Schritt zu gelebter Frauensolidarität.