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Samstag, April 27, 2024
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    Frauensolidarität gegen Lindemann und Co. – es gibt kein perfektes Opfer, hört auf, uns dazu zu machen

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    Wie jedes patriarchale Verbrechen zeigt sich an der Causa Lindemann erneut: Die Öffentlichkeit, insbesondere die männliche, schiebt “Unwissenheit” und “mangelnde Beweise” vor. Frauensolidarität gilt für manche Frauen – unter Umständen. Unter anderen nicht. Eine Wiederholung in Sachen Solidarität und warum sie für alle Frauen gelten muss. – Ein Kommentar von Olga Wolf.

    “Ich weiß selbst nicht genug darüber”, und “es gibt immer zwei Seiten der Geschichte” – selten geben sich Befragte in Straßenumfragen so differenziert, wie zu dem Zeitpunkt, als die tagesschau Besucher:innen eines Rammstein-Konzerts zu den aktuellen Geschehnissen befragte.

    Das ist keine Besonderheit von Rammstein-Fans. Linke Männer geben ungefragt, aber inbrünstig ihre Position zur Modern Monetary Theory, dem Israel-Palästina-Konflikt und den globalen Auswirkungen der Halbleiterproduktionskrise wieder. Bei Fällen sexualisierter Gewalt benötige es aber “einfach mehr Kontext”.

    Der Kontext jeder sexualisierten Gewalttat in Deutschland ist eine Gesellschaft, in der Übergriffe Alltag sind und viel zu selten verurteilt werden – weder juristisch noch gesellschaftlich. Die Leidtragenden dieser selektiven Frauensolidarität sind einmal mehr die Betroffenen. Etwa Kayla Shyx, die ihre Erfahrungen als eine von “Till’s Girls” schildert und damit Sänger Till Lindemann erheblich belastet.

    Sie ist Influencerin, geht auf viele Konzerte und teilt das mit ihren Follower:innen. Selbst Menschen, die Lindemann verurteilen und Kaylas Berichten glauben, legen ihr ihre Internetpräsenz negativ aus. Kayla passt wie viele andere Betroffene nicht in das Bild einer makellosen, unberührten Frau ohne eigene Sexualität, die Opfer eines Übergriffs wurde. Es ist eine Solidarität auf Männers Gnaden, die Betroffene erleben, wenn überhaupt.

    Befreiung gibt es nicht alleine – entweder für alle, oder keine!

    Es hat etwas Väterliches im schlechtesten Sinne, wenn den Betroffenen zwar “geglaubt” wird, diese Unterstützung aber nicht auskommt ohne einen Rat, wie wir uns zu “präsentieren” haben.

    Linke sollten sich bestens auskennen mit dem Prinzip der Solidarität. Dennoch scheitert es an der Transferleistung, dieses Prinzip auch auf das Patriarchat und die Machtverteilung zwischen Geschlechtern zu übertragen.

    Betroffene können auf diese Unterstützung nicht bauen, umso weniger, wenn sie strukturell benachteiligt sind. Etwa als Frauen, die Rassismus erfahren, als arme Frauen, behinderte Frauen, alte Frauen, psychisch kranke Frauen. Oder im Fall von Kayla Shynx: ganz einfach als eine Frau, die gerne auf Konzerte geht und ein kurzes Top anhat.

    Wir hatten gehofft, diese Debatte in einem vergangenen Jahrzehnt ausdiskutiert zu haben – die Betroffene trägt ein Top, keine Schuld. Die Schuld liegt bei den Tätern ebenso wie den Strukturen, die sie schützen.

    “Das alles für fünf Minuten Fame!”

    Im selben Atemzug werfen inbrünstige Verteidiger:innen der berühmten Täter den Frauen vor: Das alles machten sie für fünf Minuten Rampenlicht. Einmal große Wellen schlagen in den Medien, am liebsten als Betroffene einer sexualisierten Gewalttat – in manchen Vorstellungen scheint das gar ein Traum vieler Frauen und Mädchen zu sein.

    Man führe meine Mitstreiterinnen und mich dann bitte an den Ort, an dem sich all die Frauen aufhalten, die durch Vergewaltigungsvorwürfe reich und berühmt wurden. Diese Frauen gibt es nicht, im Gegenteil: Noch immer ist es ein mutiger Schritt, die erlebte Gewalt öffentlich zu machen. Wir können nicht behaupten, dass dieser Mut immer belohnt wird, denn allzu oft sind es die Betroffenen, die danach heftigster Kritik ausgesetzt sind.

    Umgekehrt wähnen einige die Cancel Culture, die nun mit eisernen Klauen nach Rammstein greife. Das Beispiel Johnny Depp zeigt, was berühmte Täter zu befürchten haben: Er ist ein wegen partnerschaftlicher Gewalt verurteilter Straftäter. Zur öffentlichen Hassfigur aber wurde die Betroffene Amber Heard, Depp spielt weiterhin gut bezahlte Rollen und ist ein sehr reicher, mächtiger, alter Mann. Man wünscht sich in Fällen wie diesen, die viel gerühmte Cancel Culture würde endlich Realität.

    Muss ich mir die Frage stellen, ein perfektes Opfer zu sein?

    Die Reaktion vieler Männer auf die Kleidung von Shyla löst bei mir und vielen Frauen ein neues Unbehagen aus. Wir wissen, dass uns kein Outfit der Welt vor Übergriffen schützen kann. Aber die Verurteilung von Betroffenen eröffnet in all diesen Fragen eine neue Dimension:

    Wir wollen keine Opfer sein, aber wenn schon, dann sicherheitshalber ein perfektes. Eine Betroffene, der man nichts vorwerfen kann. Ein aalglattes Opfer-Image, an dem jeder Zweifel, wir könnten selbst Schuld tragen, abperlt. Das ist eine von vielen Rollenerwartungen und Belastungen, die das Patriarchat für uns bereit hält.

    Diese Maßnahmen schützen uns aber nicht vor Übergriffen oder partnerschaftlicher Gewalt. Es gibt kein perfektes Opfer – zum Glück nicht. Jede erlebt und verarbeitet (Gewalt-)Erfahrungen anders. Jede darf damit einen eigenen Umgang finden, und ich wünsche jeder, dass sie das nicht allein tun muss, wenn sie möchte.

    However I dress, wherever I go

    Es darf nicht Aufgabe der Frauen sein, ihre Lebensentscheidungen danach auszurichten, mit welchem Image ihnen die Unterstützung im Fall eines Übergriffs am sichersten ist. Sich gegen diese Angst und Sozialisierung zu wehren, ist kräftezehrend, aber nötig. Es ist unser aller Aufgabe, eine Solidarität zu üben, die die Schuld tatsächlich bei den Tätern sieht. Und es ist unser aller Aufgabe, eine Gesellschaft zu erstreiten, in der patriarchale Gewalt nicht mehr Teil unseres Alltags ist.

    In Solidarität mit den Betroffenen patriarchaler Gewalt, die ertragen mussten, wie die Täter in Medien, vor Gericht und in Gesprächen in der Mittagspause hofiert wurden. In Solidarität mit denen, die immer versuchen vorsichtig zu sein, aus Angst vor oder Erfahrung mit patriarchaler Gewalt. In Solidarität mit allen, die sich gern sexy kleiden oder Bikinifotos auf instagram hochladen, und die dennoch nie Schuld haben.

    • Hier berichtet die Perspektive-Redaktion aktuell und unabhängig

    • Perspektive-Autorin seit 2017, Redakteurin seit 2018. Aus dem Rheinland, Sozialwissenschaftlerin. Schreibt am liebsten über das Patriarchat und internationale Frauensolidarität dagegen.

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