`

Zeitung für Solidarität und Widerstand

Jugendämter in Berlin: „Wir befinden uns nicht kurz vor dem Kollaps, sondern sind schon mittendrin.“

Seit Jahren mangelt es in Berlin an Geld und Personal für die Soziale Hilfe. Besonders betroffen ist derzeit der Kindernotdienst: Hier kommt es seit geraumer Zeit regelmäßig zu Auseinandersetzungen und Gewalt zwischen Kindern, aber auch stellenweise gegenüber den Betreuer:innen. Am Dienstag protestierten deshalb über 400 Sozialarbeiter:innen, Erzieher:innen und andere Mitarbeitende der Jugendämter und freier Träger vor der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gegen die unhaltbaren Zustände.

Die Lage in Berlin

Bereits Anfang Juni prangerten Mitarbeitende des Kindernotdienstes in Berlin in einem „Brandbrief“ die Zustände vor Ort an. Ihre Institution, die eigentlich dafür da sein sollte, diejenigen Kinder, die aus Gewaltsituationen fliehen, für einige wenige Tage zu betreuen, bevor sie rasch in längerfristigen Unterkünften untergebracht werden, müsse die Kinder teils monatelang in Obhut nehmen, berichten sie. Darüber hinaus komme es durch die Überlastung des Personals immer häufiger vor, dass Kinder sich selbst oder andere verletzten. Auch sexualisierte Gewalt gäbe es.

Dieser Zustand ist kein Einzelfall in Deutschland und erst recht nicht in Berlin. Seit Jahren mangelt es an Mitteln für die Soziale Arbeit. Der Lohn für Sozialarbeiter:innen ist mies und die Arbeitsbedingungen sind noch schlechter. Überstunden sind nicht nur zur Normalität, sondern zu einer absoluten Notwendigkeit geworden – wie sonst soll man den immer weiter steigenden Mangel an Fachpersonal in den Einrichtungen kompensieren? Im Brandbrief heißt es, dass allein die Arbeiter:innen in der Betreuung bereits Anfang Mai teils 1.000 Überstunden angesammelt hätten.

Die Situation wird sich in naher Zukunft voraussichtlich nicht verbessern. Der Berliner Senat und Finanzsenator Stefan Evers (CDU) kündigten bereits letzte Woche an, dass man in Berlin auf Sparkurs gehen wolle. Besonders hart trifft das die Kinder- und Jugendhilfe, sowie Hilfeangebote für Obdachlose und Suchtkranke. Der Bezirk Neukölln unter Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) hat bereits Sparmaßnahmen angekündigt, die unter anderem die Streichung der Suchthilfe, die Nichtbesetzung mehrerer freier Stellen im Bezirksamt und die Reduzierung der Ausgaben für Neuköllner Schulen beinhaltet. Darüber hinaus müsse man noch die Personalkosten drastisch reduzieren, teilte Hikel dem RBB mit.

Protestaktion der „AG Weiße Fahnen“

Am Dienstagmorgen nun versammelten sich über 400 Demonstrierende – die Allermeisten selbst Sozialarbeiter:innen und Erzieher:innen in Berlin – vor der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in der Berliner Innenstadt, um die Zustände anzuprangern und dagegen zu protestieren.

Ein Demonstrant begründete gegenüber Perspektive: „Wir stehen heute hier vor der Senatsverwaltung, weil es so nicht weitergehen kann. Wir befinden uns nicht kurz vor dem Kollaps, sondern sind schon mittendrin. Immer wieder wird uns erzählt, für uns wäre kein Geld da, oder es gäbe einen Fachkräftemangel, für den die Politik ja nichts könne. Komischerweise ist aber genügend Geld da, um in Aufrüstung oder den Ausbau der Autobahnen zu investieren, doch die Regierung will einfach kein Geld in die Hand nehmen, um das Sozialsystem in Berlin oder die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeiter:innen zu verbessern.“

In verschiedenen Parolen wurde eine Verbesserung des Sozialsystems gefordert und die Notwendigkeit von Arbeitskämpfen betont. Außerdem wurde der Staatssekretär für Jugend und Familie, Falko Liecke (CDU), lautstark aufgefordert, heraus zu kommen und sich den Demonstrierenden gegenüber zu äußern. Nachdem dies nicht geschah, betraten einige Protestierende das Gebäude, um den Staatssekretär direkt zu konfrontieren. Dort wurden sie jedoch zunächst von der Polizei gestoppt und anschließend aus dem öffentlichen Gebäude entfernt.

Antwort der Politik

Nachdem der Großteil der Demonstrant:innen den Ort bereits verlassen hatte, traute sich Staatssekretär Liecke schließlich doch noch aus dem Gebäude und sprach mit einigen Protestierenden. Dort behauptete er, am Fachkräftemangel ja nichts ändern zu können, und dass es bei den Trägern liege, dies zu verbessern. Auch für die fehlenden oder nicht besetzten Stellen könne er nichts, das liege ja am Mangel von Fachkräften. Dass dieser Mangel vor allem durch die schlechte Bezahlung und Arbeitsbedingungen verursacht wird, ließ er außen vor und ging auf diese Kritik auch später nicht weiter ein.

Zusammengefasst schien Liecke die Verantwortung nicht bei sich zu sehen – zumindest versteckte er sich wiederholt hinter dem Bund und den freien Trägern und überantwortete ihnen die Aufgabe, die Situation zu verbessern. Gegenüber dem RBB behauptete Liecke, durchaus „sehr viel Unterstützung“ geleistet zu haben und kritisierte stattdessen lieber die Beschäftigten des Kindernotdienstes dafür, dass sich einfach zu Viele von ihnen krankmelden würden. Darüber hinaus trügen Kritiken wie der offene „Brandbrief“ ja nur zur Spaltung bei und würden nicht helfen.

Der Berliner Senat im Besonderen und der deutsche Staat im Allgemeinen zeigen hier einmal mehr und unverblümt, in wessen Interesse sie handeln, nämlich in dem der Monopole und Kapitalist:innen. Wie sonst lässt es sich erklären, dass Ausgaben für Aufrüstung, Ausbau der Autobahnen, Subventionen für Großkonzerne und vieles andere mehr durchaus möglich sind und regelmäßig bedient werden, es dann aber in der Folge an Geld für soziale Arbeit, Medizin und Pflege mangelt?  Die Kosten für die derzeitige Wirtschaftskrise werden durch falsche Prioritäten erneut auf den Schultern der Arbeiter:innen und Betroffenen abgeladen.

Perspektive Online
Perspektive Onlinehttp://www.perspektive-online.net
Hier berichtet die Perspektive-Redaktion aktuell und unabhängig

Mehr lesen

Perspektive Online
direkt auf dein Handy!