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Samstag, Juli 27, 2024
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    Türkei und Kurdistan: Umweltkampf ist Klassenkampf

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    Bereits seit einigen Wochen verschärfen sich die Proteste gegen die Abholzung des Akbelen-Waldes im Südwesten der Türkei. Dort und an anderen Orten in der Türkei und Kurdistan zeigt sich: Der Kampf für Umweltschutz ist ein Kampf gegen den türkischen Staat. – Von Mohannad Lamees

    Im Akbelen-Wald in der südwest-türkischen Provinz Muğla spitzen sich seit Ende Juli die Konfrontationen zwischen Umweltschützer:innen und Polizeikräften zu. Vor allem rund um das Dorf Ikizköy wehren sich Anwohner:innen und aus anderen Regionen angereiste Aktivist:innen gegen eine Abholzung für die Braunkohleförderung, nachdem am 24. Juli Bagger und Rodungsteams in den Wald vorrückten.

    Die Polizei verteidigt die Interessen der Braunkohlekonzerne und geht gegen Protestcamps, Sitzblockaden und Demonstrationen mit äußerster Gewalt vor. Auch Wasserwerfer und Tränengas kommen zum Einsatz, um die Blockaden von Protestierenden zu durchbrechen. Aktivist:innen berichten auch vom Einsatz von Folter gegen festgenommene Protestierende. Zuletzt sind die Polizeikräfte auch dazu übergegangen, die Demonstrierenden am Zugang zu fließendem Wasser und mobilen Toiletten zu hindern.

    Seit zwei Jahren andauernder Protest gegen Braunkohlekonzerne

    Der über 700 Hektar große Akbelen-Wald soll gerodet werden, um eine angrenzende riesige Braunkohlemine ausweiten zu können. Mit der geförderten Braunkohle soll ein Heizkraftwerk der regimetreuen „Limak Holding“ versorgt werden. Das Heizkraftwerk gehört zu insgesamt drei Kraftwerken, die in den 1980er und 1990er Jahren vom türkischen Staat erbaut wurden und eigentlich bereits das Ende ihrer vorgesehen Lebensdauer erreicht haben. Anstatt die Kraftwerke aber abzuschalten, privatisierte der Staat sie vor einigen Jahren – ohne jedoch  die dringend notwendigen Renovierungen vorzunehmen – und versprach den Konzernen, darunter auch Limak, gar eine Ausweitung des Kohleabbaugebiets.

    Ikizköy ist jetzt eines von mehreren Dörfern, die der Kohlemine weichen sollen. Dort formierte sich bereits vor zwei Jahren Widerstand gegen die angekündigte Rodung des Akbelen-Waldes. Der Wald bietet unter anderem einen natürlichen Schutz des Dorfes vor den Staub- und Partikelwolken aus dem Kohleabbaugebiet. Tatsächlich schätzen Aktivistinnen die durch die Kraftwerke verursachte Umweltverschmutzung als extrem gefährlich für die gesamte Region ein: Zwischen 1982 und 2017 soll sie verantwortlich für über 45.000 frühzeitige Todesfälle sowie tausende Frühgeburten und hunderttausende Fälle von Bronchitis in der Region gewesen sein.

    Umweltzerstörung als Mittel der Unterdrückung

    Nicht nur rund um Ikizköy ist die Frage der Umweltzerstörung eine Frage von Leben und Tod. Der türkische Staat initiiert sogar gezielt Umweltkatastrophen als ein Mittel, um kurdische Dörfer umzusiedeln, kurdische Guerilla-Kämpfer:innen aus den Bergen zu verdrängen und den kurdischen Widerstand gegen den türkischen Kolonialismus zu brechen. Zu diesen Mitteln gehören absichtliche Flutungen oder auch Brandrodungen wie jüngst auf dem Berg Cûdî in Bakûr, wo mehrere Tage lang das Feuer wütete.

    Die sozialistische Jugendorganisation Young Struggle berichtet in diesem Zusammenhang, dass Anwohner:innen der naheliegenden Gemeinden unmittelbar nach Ausbruch des Brands die Feuerwehr, das Gouverneursamt und diverse weitere Notfallstellen informiert hatten. Der Staat reagierte jedoch nicht auf die Hilferufe. Er müsse deshalb, so Young Struggle, als Verursacher der Brände klar benannt werden. Die fabrizierten Naturkatastrophen seien als „ein Teil kolonialer Kriegsführung“ zu bewerten.

    Umweltkampf ist Klassenkampf

    Ein weiteres Beispiel für die Zerstörungswut des türkischen Staats ist die Privatisierung von Stränden, um durch Tourismus und die Einrichtung von exklusiv genutzten Strandclubs höhere Profite zu generieren. Nachdem gegen ähnliche Phänomene bereits in Griechenland und Zypern Protestwellen stattgefunden haben, wehren sich nun auch an den türkischen Stränden der Ägäis-Küste rund um Izmir Aktivist:innen und Anwohner:innen gegen eine derartig ausschließende Nutzung der Strände. Unter der Losung „Die Strände gehören dem Volk“ stürmten sie an mehreren Orten mit Handtüchern die abgeschotteten Privatstrände, für die normalerweise hohe Eintrittsgelder fällig würden.

    In allen Beispielen, so unterschiedlich sie auch sind, tritt deutlich der Klassencharakter der Umweltfrage zu Tage: Es sind Arbeiter:innen und Unterdrückte, die den Preis für den kapitalistischen Raubbau an der Umwelt und die imperialistische Zerstörungswut bezahlen müssen. Die Umweltfrage ist deswegen eine grundlegend politische Frage. Auch bei den Gezi Park-Aufständen vor zehn Jahren erwuchs aus dem Protest gegen die Bebauung einer Grünfläche eine Aufstandsbewegung gegen das türkische Regime insgesamt. Damals wurde bereits deutlich, welche Kraft ein sich konsequent gegen das ganze türkische Regime richtender Protest entfalten kann.

    • Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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