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Dienstag, Mai 7, 2024
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    Diesem Vaterland nicht unsere Knochen

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    Seit 1990 wird am 3. Oktober der “Tag der Deutschen Einheit” begangen. Was dabei genau gefeiert wird, ist weniger eindeutig und nicht so ungebrochen erfreulich, wie es die mediale Darstellung nahelegt. – Ein Kommentar von Johann Khaldun.

    Mit der Unterzeichnung des Einigungsvertrags im Jahre 1990 kreuzten sich zwei entscheidende gesellschaftliche Prozesse in unserer Geschichte: die Restauration des Kapitalismus, die schon Jahrzehnte vorher auch in der DDR begonnen hatte, fand ihren Abschluss. Zugleich begann der offene Raubzug des deutschen Kapitals in Ostdeutschland. Dazu mussten der Osten zunächst deindustrialisiert, die Reste sozialistischer Vergesellschaftung zerstört und Millionen junger, gebildeter Menschen in den Westen gelockt werden.

    r das deutsche Kapital folgte daraus eine erhebliche Stärkung, die es im Frühjahr 1999 sofort in der ersten offiziellen Kriegsbeteiligung Deutschlands seit dem Ende des zweiten Weltkrieges mit der Zerschlagung Jugoslawiens erprobte. Das innere Band, das Wirtschaft, Politik und Krieg im Kapitalismus miteinander umschlingt, wurde damit offenkundig. Es folgte die Unterwerfung Osteuropas unter deutsches Kapital, dessen Werkbank somit hinein in die ehemaligen Kolonialgebiete Nazideutschlands erweitert wurde. Was der Krieg nicht erreichte, leistete die Ökonomie.

    Mit der zunehmenden Osterweiterung der NATO begann zudem ein politisch-militärischer Prozess, dessen Ziel schon früh klar war: ein erneuter Krieg mit Russland. Die Einverleibung Ostdeutschlands war dabei ein wichtiger Schritt in den Kriegsvorbereitungen des deutschen Imperialismus.

    Der „braune Osten“

    Ostdeutschland ist heute berüchtigt als Hort der Reaktion. In den Medien der Herrschenden wird uns erklärt, dass das tatsächlich nicht abzustreitende Erstarken des Faschismus in Ostdeutschland in einer aus DDR-Zeiten ererbten Unfähigkeit zur Demokratie herrührt. Das Argument, das ansonsten auf Deutschland insgesamt zur Erklärung des Hitlerfaschismus herangezogen wird, erklärt aber in Wirklichkeit nichts.

    In Folge der Deindustrialisierung und des Abbaus sozialstaatlicher Einrichtungen im deutschen Einigungsprozess wurden ganze Landstriche verheert, besonders ländliche Gebiete wurden der sozialen Verwahrlosung anheim gegeben. Alles, was auch nur links schielte, wurde der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn es nicht direkt unter den Bannspruch diktatorischer, anti-demokratischer Absichten geschlagen wurde.

    Zugleich erfuhr die faschistische Bewegung im Osten schon vor der Einigung Unterstützung aus dem Westen. Während der Wende wurden diese faschistischen Verbindungen genutzt, um dem Kapital zu helfen, sich noch des letzten Rests von Widerstand durch eine Welle der Gewalt zu entledigen. Danach griffen die gesellschaftliche Verelendung, die Bekämpfung der linken – noch nicht einmal revolutionären – Kräfte und schließlich die Unterstützung faschistischer Faulungsprozesse ineinander, um aus Ostdeutschland diese Vorhut des Faschismus in Deutschland zu machen.

    Ausbeutung billiger Arbeitskraft – ein Grund zum Feiern?

    Worin besteht der Standortvorteil, den sich das deutsche Kapital mit der Einigung Deutschlands, in der Weise, wie sie tatsächlich stattgefunden hat, erobert hat?

    Deutschland verfügt mit dem deindustrialisierten Osten, in dem geringere Löhne gezahlt werden müssen, in dem die Institutionen und Unternehmen fast ausnahmslos fest in westdeutscher Hand sind, in dem eine entmutigte unddurch die DDR-Politik sowie das westdeutsche Kapital doppelt gedemütigte Bevölkerung lebt, über ein Reservoir relativ billiger und dankbarer Arbeitskraft innerhalb der eigenen staatlichen Grenzen. Mehr noch zeigt sich ein weiterer Vorteil darin, dass sich die Mehrheit der Bundeswehr-Angehörigen – vor allem der unteren und untersten Ränge – aus Ostdeutschen rekrutiert.

    Deutsche Einheit“ bedeutet auch Kriegstreiberei

    Die Aufrechterhaltung der ökonomischen und sozialen Ungleichheit zwischen West- und Ostdeutschland ist also kein Zufall, sondern gewollt, weil sie klare Vorteile bringt. Ebenso wenig ist es ein Zufall, wenn nun beispielsweise die Produktion von Mikroleitern gerade in Ostdeutschland aufgebaut wird es ist dies nachgerade die Verwirklichung des Standortvorteils. Wir sollen uns doch darüber freuen, dass unsere billige Arbeitskraft derart internationale Investor:innen anzuziehen vermag. Hurra!

    Und auch hier sehen wir, wie die Geschichte über das Gestern und Heute in unsere Zukunft greift: Denn wenn sich das deutsche Kapital um eine Versorgung mit Mikroleitern außerhalb Chinas bemüht, wenn es zugleich massiv militärisch aufrüstet und alte Feindbilder aus braunsten Zeiten wieder hoffähig macht, dann deutet das eine Positionierung für kommende Kriege an eine Positionierung, die klar auf die Erstarkung und konkreten Vorteile durch die Wiedervereinigung zurück geht, ja, nur dadurch möglich geworden ist.

    Einheit als Klasse, nicht als Nation!

    Ostdeutschland ist nicht der einzige ökonomisch und sozial verelendete Teil Deutschlands. Die Deindustrialisierung hat beispielsweise auch das Rheinland oder das Ruhrgebiet stark getroffen, sodass wir dort mitunter ähnliche Zustände finden können. Wir sollten uns jedoch nicht über unsere Ausbeutung, sondern über unseren Widerstand gegen diese Ausbeutung durch das Kapital definieren. Darin liegt auch die Möglichkeit, mehr als die vormalige Teilung Deutschlands zu überwinden – hin zu einer wirklichen Einheit.

    Darüber hinaus verbindet uns der gemeinsame Widerstand gegen das Kapital auch über die Nation hinweg mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit. So eröffnet sich eine Perspektive, von der aus ein neuer, hoffnungsschimmernder Horizont sichtbar wird. Dieser noch schwache Lichtstrahl, der uns da begegnet, ist ein neuer, kämpferischer, bewussterer Anlauf zu einer besseren Welt jenseits von Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg.

    Während das deutsche Kapital seine alljährliche Siegesrunde dreht, sollten wir uns dabei weder in Unkenntnis des wirklichen Inhalts dieser Feier mitreißen lassen. Noch sollten wir uns dabei als Besiegte deprimiert in den Schatten der Geschichte zurückziehen. Unsere historische Lage ist zu zugespitzt, als dass wir uns weiterhin zwischen diesen falschen Alternativen entscheiden könnten. Jetzt muss es darum gehen, weitere Niederlagen für unsere Klasse zu verhindern, Verbrechen, wie sie das deutsche Kapital und mit ihm breite Teile des deutschen Volkes der Menschheit schon einmal angetan haben, zu vereiteln und eine positive, eine bessere Alternative zu erkämpfen.

    Der Tag der Deutschen Einheit erinnert uns an eine doppelte Niederlage. Damit aber auch zugleich an die Notwendigkeit, den Kampf um eine bessere Welt weiterzuführen, aus diesen Niederlagen zu lernen ob das die Herrschenden wollen oder nicht.

    • Perspektive-Autor seit 2023. Philosoph deutsch-algerischer Abstammung mit Fokus auf Arbeiter:innengeschichte und deutschem Idealismus. Vom Abstrakten zum Konkreten auf dem Weg der Vermittlung.

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