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Freitag, Mai 3, 2024
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    Weiterhin keine Entschädigungen für Überlebende der Leningrader Blockade

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    Im Zweiten Weltkrieg verübte die Wehrmacht einen Genozid durch das Aushungern der Einwohner:innen Leningrads. 80 Jahre nach dem Ende der Blockade weigert sich die Bundesregierung immer noch, Entschädigungen an alle Überlebenden zu zahlen.

    28 Monate lang war Leningrad (heute wieder St. Petersburg) abgeschnitten von der Versorgung mit Lebensmitteln. Diese Blockade war Ausdruck eines geplanten Genozids, den die Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 an der Bevölkerung der sowjetischen Großstadt verübte.

    Anstatt Leningrad einzunehmen, zielten die Nazis darauf ab, die Einwohner:innen verhungern zu lassen. Bis die Blockade am 27. Januar 1944 von sowjetischen Truppen gebrochen wurde, starben 1,1 Millionen Menschen – etwa ein Drittel der Leningrader Bevölkerung.

    Geringe Entschädigungen lediglich für kleinen Teil der Opfer

    Die Bundesregierung weigert sich auch 80 Jahre nach der Blockade immer noch, diese als einen Völkermord anzuerkennen. Die wiederholten Forderungen der weniger als 60.000 Überlebenden nach Reparationen weist sie weitestgehend zurück. Lediglich jüdischen Opfern der Blockade wurden 2008 Einmalzahlungen von jeweils 2.556 Euro zugesagt.

    Zusätzlich zu dieser erschreckend niedrigen Summe gab die Bundesregierung 2021 die Zusage für ein Rentenprogramm. 6.500 jüdische NS-Opfer, zu denen prinzipiell auch Opfer der Blockade gehören, haben damit das Anrecht auf Monatszahlungen von 375 Euro. Ausgeschlossen von diesen Entschädigungen sind jedoch alle nicht-jüdischen Überlebenden des Hunger-Genozids. Dabei galten die Vernichtungspläne der Wehrmacht der gesamten Bevölkerung Leningrads, und auch Slaw:innen wurden von der rassistischen Ideologie der Nazis als „Untermenschen“ gebrandmarkt.

    Die russische Regierung wiederholte auch im vergangen Jahr immer wieder die Forderung nach Entschädigung für nicht-jüdische Opfer. Im Oktober vergangenen Jahres richteten sich auch die Überlebenden in einem Brief an die Bundesregierung und forderten Auszahlungen an ausnahmslos alle Opfer der Blockade.

    In ihm ist zu lesen: „Der grausame Kalkül der Nazis, die ganze Bevölkerung des unbeugsamen Leningrads durch Kälte und Hunger auszumerzen, sah keine Ausnahmen aufgrund von Nationalität vor. Die Einwohner unserer Stadt waren ungeachtet ihrer Nationalität gleich vor dem qualvollen Tod, den ihnen die Hitler-Ungeheuer bereiteten.“ Ebenfalls beklagen die Überlebenden, dass die kleine „humanitäre Geste“ der BRD, ein Krankenhaus für Kriegsveteranen in St. Petersburg modernisieren zu wollen, immer noch nicht verwirklicht sei.

    Angeblich kein Völkermord, sondern „allgemeine Kriegshandlung“

    Die Bundesregierung drückt sich jedoch weiterhin vor uneinschränkten Entschädigungen und sieht das „Thema im deutsch-russischen Verhältnis“ als „abgeschlossen“ an. Sie stützt sich dabei auf die Behauptung, dass das gezielte Aushungern der Metropole kein Völkermord, sondern eine „allgemeine Kriegshandlung“ sei.

    Schäden, die durch solche Kriegshandlungen entstanden seien, fielen unter das allgemeine Völkerrecht und seien durch die Reparationsvereinbarungen mit dem sowjetischen Staat geregelt. Dieser sei in der Verantwortung gewesen, „die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen“. Da die ehemalige Sowjetunion 1953 auf weitere Reparationszahlungen verzichtet habe, weist die Bundesregierung weitere Entschädigungen an den russischen Staat oder individuelle Opfer zurück.

    Städte sollten nicht eingenommen, sondern ausgehungert werden

    Wenn man sich jedoch die Leningrader Blockade und die damit verbundenen Kriegsziele des NS-Regimes im Detail anschaut, entpuppt sich die Darstellung als „allgemeine Kriegshandlung“ als klare Verharmlosung. So trafen sich am 2. Mai 1941 die Staatssekretäre aller wirtschaftlichen Schlüsselministerien in Berlin, um zu besprechen, wie der Russlandfeldzug und die Versorgung der Wehrmachtssoldaten geregelt werden sollten.

    Die Staatssekretäre waren sich hierbei einig, dass ‘Exporte’ aus den besetzten sowjetischen Gebieten die Lebensmittelversorgung für Deutschland sichern sollten. In dem Beschluss wurde offen voraus gesehen, dass dadurch „zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird“.

    Die Pläne hierfür wurden im Reichsernährungsministerium vom Staatssekretär Herbert Backe und dessen Mitarbeiter Hans-Joachim Riecke erstellt. Diese zielten darauf, Agrarexporte aus den “Schwarzerde”-Gebieten im Süden der Sowjetunion nach Deutschland umzuleiten. Die Bewohner:innen der westlichen Industriezentren Moskau und Leningrad, sowie des als „Waldzone“ bezeichneten Nordens der Sowjetunion wurden als „Überbevölkerung“ angesehen. So schrieben Backe und Riecke: „Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen.“

    Die Folgen der Blockade

    Als die deutschen Truppen vor den Toren Leningrads standen, bestätigte Hitler seine Entscheidung, gar nicht erst zu versuchen, die Stadt einzunehmen. Auch bei einer Kapitulation sei die Blockade aufrechtzuerhalten, denn „ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht“.

    Dass somit die gesamte Stadtbevölkerung dem Hungertod anheim fallen sollte und eine Einnahme der Stadt von Anfang an ausgeschlossen wurde, ist tatsächlich ein absoluter Einzelfall in der Militärgeschichte. Dies war auch Joseph Goebbels bewusst, der in seinem Tagebuch notierte: „Es spielt sich augenblicklich in Petersburg ein Stadtdrama ab, wie es die Geschichte noch nicht gekannt hat“.

    Am 8. September 1941 war Leningrad nahezu völlig abgeschnitten. Die Blockade wurde im Süden von deutschen, und im Norden von den verbündeten finnischen Truppen ausgeübt. Lediglich über den Ladogasee im Osten konnten Lebensmittel an die Metropole geliefert werden, die jedoch bei weitem nicht ausreichten. Über eine im Winter eilig eingerichtete Eisstraße über den Ladogasee konnte wenigstens 1 Million Menschen gerettet werden. Etwa ebenso viele fielen dem Hunger-Genozid der Wehrmacht zu Opfer.

    Verweigerte Entschädigungen sind kein Einzelfall

    Auch wenn die beständige Weigerung der BRD, angemessene Reparationen an alle Opfer der Leningrader Blockade zu zahlen, erschreckend ist, ist sie leider kein Einzelfall. So wies die Bundesregierung auch polnische Forderungen nach Reparationen zurück.

    Darüber hinaus erkannte die deutsche Regierung erst 2021 den Völkermord an den Herero und Nama als solchen an. Dieser wurde 1884 bis 1915 von deutschen Kolonialsoldaten im heutigen Namibia begangen. Reparationen zahlt die BRD jedoch nicht direkt an die Opfer des Völkermords, sondern erklärte sich lediglich zu Zahlungen von 1,1 Milliarden Euro an den namibischen Staat bereit. Diese sind rechtlich nicht bindend und entsprechen in etwa der Höhe der bisher gezahlten „Entwicklungshilfe“ an das afrikanische Land – ein Vorgehen, das von Organisationen der betroffenen Völkergruppen stark kritisiert wurde.

    Während „Aufarbeitung“ und „Erinnerungskultur“ Phrasen sind, derer sich die Bundesregierung häufig bedient, gehen die Opfer der Leningrader Blockade und anderer Verbrechen des deutschen Imperialismus weiterhin größtenteils leer aus.

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