„Der Kapitalismus ist nicht das Problem“ – so der Titel einer vor kurzem in der ZEIT veröffentlichten Kolumne. Autor Marcel Fratzscher gehört zu den Top 5-„Ökonomen“ in Deutschland. Er irrt sich. – Eine Gegenrede von Herbert Scholle.
Am Freitag hat Marcel Fratzscher in seiner ZEIT-Kolumne vom 15.03. mal wieder einen rausgehauen. Fratscher ist nicht irgendwer, sondern einer der einflussreichsten deutschen „Wirtschaftswissenschaftler”. Im „Ökonomenranking“ der FAZ von 2021 landete er auf Platz 3, zudem ist er Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Aus seiner feurigen Verteidigungsrede des Kapitalismus („Der Kapitalismus ist nicht das Problem“) kann man grundsätzlich zwei Hauptargumente herauslesen: Zunächst versucht er den Leser:innen klarzumachen, dass es nicht das System selbst ist, das die Schuld an Krisen wie dem Klimawandel, Kriegen und immer stärkeren Teuerungen trägt. Es sei stattdessen „der Missbrauch von Kapitalismus und Demokratie durch einige wenige“ der Grund unserer Probleme.
Doch er geht noch einen Schritt über dieses inzwischen schon recht angestaubte Argument hinaus: Denn für ihn ist der Kapitalismus nicht nur ein System, das – bis auf einige schwarze – Schafe funktioniere, sondern notwendig, um all unsere Probleme zu lösen. Möchte man Fratzschers Aussagen also Glauben schenken, setzen wir den Kapitalismus einfach nur falsch um.
Was ist denn überhaupt Kapitalismus?
Um sich grundlegender mit Fratzschers Argumenten auseinandersetzen zu können, muss man zunächst einmal definieren, was der Kapitalismus überhaupt ist. Mit Kapitalismus bezeichnet man nämlich nicht etwa eine spezifische Wirtschafts- oder Regierungsform, vielmehr geht es um die Beziehung zwischen Gesellschaft und Produktion. Der Kapitalismus hat sich historisch als ein System herausgebildet, in dem die Produktion von einigen wenigen privat kontrolliert wird und zugleich industriell, auf gesamtgesellschaftlicher Stufenleiter verteilt, produziert wird..
Konkret heißt das, dass Kapitalist:innen diejenigen sind, die alles besitzen, was wir brauchen, um Waren herzustellen, wie zum Beispiel Fabriken oder Maschinen, und die darüber entscheiden, wovon wie viel produziert wird. Ihnen gegenüber stehen dann die ausführenden Arbeiter:innen, die für ihre Arbeitskraft bezahlt werden, um zum Beispiel die Maschinen zu bedienen oder Waren herzustellen und so neuen Wert schaffen. Man darf das nicht mit dem klassischen Bild eines:r Fabrikarbeiter:in gleichstellen. Jede und jeder, der keine Produktionsmittel besitzt und tagtäglich arbeiten muss um zu überleben, gehört zur Arbeiter:innenklasse.
Da die Kapitalist:innen möglichst viel Profit scheffeln wollen, ist es in ihrem objektiven Interesse, ihren Arbeiter:innen so wenig Geld wie möglich für ihre Arbeitskraft zu zahlen. Die Arbeiter:innen hingegen wollen natürlich möglichst besser entlohnt werden – das ist der grundlegende Widerspruch des Kapitalismus. Dies ist natürlich nur eine stark verkürzte und vereinfachte Zusammenfassung eines unglaublich komplexen Gesellschaftssystems.
Freiheit
Eine solche Definition, insbesondere eine mit Klassenbezug, fehlt in Fratzschers Text völlig. Für ihn bedeutet Kapitalismus lediglich, dass „Menschen und Unternehmen die Entscheidungen über die Verteilung knapper Ressourcen […] treffen“. Dass er also ganz bewusst die Klassenfrage außen vorlässt, ermöglicht es Fratzscher zu behaupten, dass der Kapitalismus „Freiheit für jeden Einzelnen, selbst über das eigene Leben zu entscheiden“ bedeutet. In Wirklichkeit sind es aber nicht die „Menschen“ allgemein, die über die Verteilung entscheiden, sondern Kapitalist:innen. Als Arbeiter:innen haben wir nur sehr wenige Möglichkeiten mitzuentscheiden, und selbst diese mussten wir uns hart erkämpfen.
In einem kapitalistischen System herrscht wirkliche Freiheit also nur für Kapitaleigner:innen. Arbeiter:innen hingegen haben nur die Freiheit, zu wählen, wer sich an ihrer Arbeit bereichert. Oder um es in Rio Reisers Worten zu sagen: „Ich bin nicht frei, und ich kann nur wählen, welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen.“.
Wachstum
Darüber hinaus fixiert sich Fratzscher stark auf das Wachstum im Kapitalismus. Hierbei betont er seine Alternativlosigkeit und stellt diesem Gesellschaftsentwurf die sozialistische Wirtschaftsplanung entgegen. Diese sei „nicht nur mit Blick auf die Sicherung des Wohlstands der eigenen Bevölkerung, sondern auch mit Blick auf große wirtschaftliche Transformationen“ gescheitert. Eine interessante Aussage, bedenkt man, dass der Kapitalismus regelmäßige Wirtschaftskrisen hervorruft und somit seinem eigenen Kriterium von „Sicherung des Wohlstands“ nicht ansatzweise gerecht wird.
Besonders geschichtsvergessen ist aber der zweite Teil seines Arguments. Um zu widerlegen, dass der Sozialismus nicht in der Lage wäre, „wirtschaftliche Transformationen“ durchzuführen, genügt es, in die frühe Sowjetunion zurückzuschauen: Hier hatte es eine sozialistische Wirtschaft binnen weniger Jahrzehnte geschafft, fast vollständig auf Agrarwirtschaft basierende Länder in weltweite Industriemächte zu verwandeln.
Dem stellt er den Kapitalismus gegenüber. Dieser soll – auch wenn Fratzscher nie begründet, warum dem so sei – scheinbar besser für solche Transformationen geeignet sein. Das dies in den letzten 30 Jahren nicht geklappt hat, liege lediglich daran, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik den Wettbewerb verzerre und demokratische Institutionen manipuliert habe. Dass dieses Handeln genau dem objektiven Interesse der Kapitalist:innen entspricht und somit vom Kapitalismus hervorgerufen wird, kehrt er praktischerweise unter den Teppich.
So wiederholt es sich immer wieder: Fratzscher schiebt die Schuld für Krisen den Einzelpersonen oder kleinen Gruppen zu und ignoriert dann, dass deren Beweggründe durch den Kapitalismus selbst bedingt sind. So ist es natürlich leicht zu behaupten, dass der Kapitalismus keine Ursache für Klimawandel oder andere Probleme sei.
Demokratie
Auch bleibt die Notwendigkeit von Kapitalismus zur Lösung unserer Probleme völlig unbegründet und wird lediglich als Fakt dargestellt. Fratzscher versteckt das geschickt, indem er versucht, Kapitalismus untrennbar mit Demokratie zu verflechten. Er argumentiert also, dass „Kapitalismus und Demokratie […] die besten Voraussetzungen für die Lösung unserer Polykrisen“ seien. So versucht er, auch die skeptischen Leser:innen für sich zu gewinnen, denn wer will sich schon gegen demokratische Werte positionieren?
Das Problem daran ist allerdings, dass man Demokratie und Kapitalismus nicht gleichsetzen kann. Zwar existiert der Kapitalismus in vielen Ländern heute in Form einer parlamentarischen Demokratie, er funktioniert aber genau so gut, wenn nicht gar besser, ohne sie.
Wenn es ihm nützlich wird – insbesondere in Zeiten von Krisen – nimmt der Kapitalismus nämlich autoritäre Formen an, um die Profite der Kapitaleigner:innen zu schützen. Das beste Beispiel hierfür ist das Dritte Reich: Der Faschismus der Nationalsozialisten – eines der autoritärsten Regimes der Geschichte – unterdrückte Arbeiter:innen auf brutalste Weise, während die Großunternehmen und Kapitalist:innen von deren Elend profitierten.
Insgesamt sind Fratzschers Aussagen nur mit Floskeln begründet, und wenn man einmal genauer hinschaut, bricht seine Logik schnell zusammen. Lassen wir uns nicht in die Irre führen: Wenn wir Krisen wie den Klimawandel wirklich lösen wollen, brauchen wir ein Gesellschaftssystem, das nicht wie der Kapitalismus darauf hinaus ist, einige wenige zu bereichern. Wir brauchen ein System, das tatsächlich die Interessen der Mehrheit vertritt und für sie einsteht. Kurz gesagt: Wir brauchen den Sozialismus.