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Klassenbewusstsein statt „Critical Westdeutschness”

Rund um die Landtagswahlen in Ostdeutschland entbrannte jüngst wieder der altbekannte Streit über den Osten: Sind die Ostdeutschen dazu veranlagt, rechts zu sein? Rücken die Westdeutschen sie einfach nur in ein schlechtes Licht? Inmitten der Debatten über das Wesen der „Ossis“ geht der Blick auf das große Ganze verloren. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.

Vor einem Jahr der AfD-Wahlsieg bei den Kommunalwahlen in Sonneberg, nun Wahlergebnisse oberhalb der 30 Prozent bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Dass die faschistische AfD in Ostdeutschland stark ist, liegt auf der Hand. Auch in Brandenburg wird sie, selbst wenn sie dort die Marke von 30 Prozent am Sonntag wohl nicht knacken wird, ein ähnliches Ergebnis einfahren. Dazu kommen die Angriffe auf LGBTI+ während der Christopher Street Day-Demonstrationen in ostdeutschen Städten wie Bautzen durch Neo-Nazi-Aufmärsche.

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Der Osten ist anders

Ob Deutschlandfunk, Spiegel TV oder die heute show – das Wesen Ostdeutschlands und vor allem die Wesensart der Ostdeutschen stehen rund um die Wahlen im Mittelpunkt des Interesses. Die scheinbar wichtigste Frage dabei lautet: Tickt der Osten einfach anders?

Mitunter unterstellen Kommentator:innen wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk gar, dass der AfD-Boom in den neuen Bundesländern heute ein Erbe des Sozialismus sei. In der DDR, so Kowalczuk, sei in den 1980er Jahren die „prä-faschistische Disposition” entstanden, die dem heutigen Faschismus den Weg ebne. Die Ossis, so das antikommunistische Argument, seien einfach gewohnt an Diktaturen und kommen deswegen heute mit der westdeutschen Demokratie nicht zurecht. Die „Motzer” und „Weltuntergangssüchtigen” in Ostdeutschland – so heißt es in einem kürzlich erschienenen Kommentar des taz-Autors Michael Bartsch – folgten derzeit sehenden Auges und in vollem Bewusstsein den Rechten, weil sie so unzufrieden mit den gegebenen Verhältnissen seien.

Die AfD selbst schlägt tatsächlich genau in diese Kerbe und kanalisiert Unzufriedenheit und Frust: Mit der Losung „Der Osten machts” zielte die AfD beispielsweise bei der Landtagswahl darauf ab, den Wähler:innen in Thüringen ihre Stärke, Eigenmacht und Stolz zu vermitteln. Ein Kreuzchen für die Faschist:innen bei der Landtagswahl sei der Schritt für einen Wandel in ganz Deutschland: „Bei uns im Osten geht die Sonne auf”, heißt es in einem Werbevideo der Thüringer AfD, und auch: „Wir sagen Ja zu Sommer, Sonne, Remigration”.

Wer trägt Schuld am Erstarken der Faschist:innen?

Sind die Ossis falsch erzogen und falsch gebildet, also tatsächlich verantwortlich für das Erstarken der AfD? Gegenfrage: War es nicht West-Deuschland, das die Nazis in den 1980er aus DDR-Gefängnissen freikaufte? Waren es nicht westdeutsche Faschist:innen, die die Proteste und Unruhen rund um die „Wende” unterwanderten und so das Erstarken der faschistischen Bewegung in den frühen 1990er Jahren erst ermöglichten? Und weiter: Waren es nicht die westdeutsche Bild-Zeitung und der Spiegel, die mit ihren Titelschlagzeilen wie „Das Boot ist voll” die Pogromstimmung gegen Geflüchtete und Migrant:innen zu dieser Zeit anfachten und die Anschläge von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda mit vorbereiteten? Gab es nicht auch in den westdeutschen Städten Mölln und Solingen Brandanschläge durch Neo-Nazis, bei denen Migrant:innen ermordet wurden?

So lassen sich eigentlich zu jedem Argument „gegen” die Ostdeutschen auch Beispiele für die Verstricktheit der Westdeutschen in die faschistische Bewegung finden. National befreite Zonen in Ostdeutschland – ja, aber es gab auch jahrzehntelang die Neonazi-Enklave in Westdeutschland, so wie in Dortmund-Dorstfeld. Die Afd erhält immer mehr Gelder durch ihre Wahlerfolge in den ostdeutschen Landtagswahlen – richtig, aber es waren doch auch viele westdeutsche Kapitalist:innen wie August von Finck, die die AfD mit Großspenden unterstützten.

Letztendlich manövriert uns, soviel ist klar, ein solches Hin und Her der Schuldzuweisung eher in eine Sackgasse.

Das Erbe der „Entnazifizierung“

Fakt ist, dass sich in der BRD und der DDR die faschistische Bewegung nach 1945 verschieden entwickelt hat. In Westdeutschland bauten Nazis den Staat in führenden Funktionen mit auf, bis heute sind Geheimdienste und Behörden wie die Polizei durchsetzt mit faschistischen Netzwerken. Gleichzeitig sorgten die 68er Bewegung dafür, dass in Westdeutschland die post-faschistische Phase ein Ende fand, einige Nazi-Verbrechen aufgearbeitet wurden und die liberale bürgerliche Demokratie hergestellt wurde.

In der DDR hingegen galt Antifaschismus als Staatsdoktrin. Obwohl führende Kriegsverbrecher:innen verfolgt und verurteilt wurden, fand eine vollständige Entnazifizierung hier nicht statt. Gerade weil in der DDR der Sozialismus von „oben”, also nicht durch eine sozialistische Revolution, sondern inmitten des Kalten Krieges als Abwehr gegen die expanisive kapitalistische Politik des Westens, eingeführt wurde, mangelte es Teilen der Bevölkerung an einem tatsächlichen antifaschistischen – und letztlich auch an einem sozialistischen – Bewusstsein.

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Die Einverleibung Ostdeutschlands war Hauptziel der BRD

Und was ist mit dem Argument der Unzufriedenheit unter den Ostdeutschen? Bartsch schreibt in der taz über „das arme Ossilein”, das „Opfer einer kolonialen Westattitüde seit 1990” geworden sei – nur um diese Unzufriedenheit zurückzuweisen und zu dem Schluss zu kommen, dass die Ostdeutschen nicht die Westdeutschen, sondern sich selbst für ihre Lage verantwortlich machen müssen.

Doch in Wahrheit geht es weniger um eine „Attitüde”, sondern um die tatsächliche Kolonialisierung Ostdeutschlands durch die BRD. Schließlich hat weder vor oder nach 1990 sich jemals ein kapitalistisches Land eine Volkswirtschaft in vergleichbarer Größenordnung einverleibt. Die Vereiningung mit Ostdeutschland war dabei über Jahrzehnte das erklärte Ziel der BRD – und zwar, um die Vorherrschaft Deutschlands in Europa nach dem verlorenen Krieg wiederherzustellen und dem deutschen Kapital langsam und Schritt für Schritt die verlorengegangen Einflussbereiche zurückzuerkämpfen.

Wenn also heute noch immer Lohnunterschied von durschnittlich 824 Euro in den Bruttoeinkommen in West- und Ostdeutschland existiert, dann liegt das vor allem daran, dass im Zuge der „Einheit” die Wirtschaftsstrukturen der DDR zugunsten der Profite der westdeutschen Kapitalist:innen vollständig zerschlagen hat.

Wo liegt das wahre Problem?

Obwohl Kommentator:innen und Ostdeutschland-Kenner wie der Literaturprofessor Dirk Oschmann diesen Umstand offenlegen und die Ausbeutung des Ostens durch den Westen klar belegen, kommen sie dennoch zu einem falschen Schluss: Sie fordern, dass der Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit mehr Anerkennung entgegnet werden müsse – es brauche, kurz gesagt, einen neuen „Oststolz”. Der Westen wiederum solle, in Anlehnung an ein antirassistisches Konzept, eine „critical Westdeutschness” entwickeln und seine eigenen Privilegien reflektieren.

Brauchen Ostdeutsche mehr Anerkennung und Teilhabe?

Doch warum nicht ganz konkret das benennen, was letztlich für die Misere der Ostdeutschen, die entweder dauerarbeitslos geworden sind oder zu deutlich weniger Lohn arbeiten müssen als ihre westdeutschen Kolleg:innen, benennen? Der Grund ist die Ausbeutung im Kapitalismus. Und genau dem Wesen dieses Kapitalismus liegt es auch, dass das Kapital seine Herrschaft auch mit Hilfe von Faschisten absichert.

Weder den Faschismus, noch den Kapitalismus an sich werden wir also überwinden, wenn wir uns mit dem Finger auf die Ostdeutschen als schlechtere Menschen zeigen. Aber auch die Forderung, den Ostdeutschen mehr Anerkennung zu schenken, ändert nichts an den bestehenden kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen. Machen wir uns also klar, dass wir nicht im Grunde nicht in Ost und West, sondern in Arm und Reich getrennt sind.

  • Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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