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Samstag, September 21, 2024
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    EU-Kommission: Draghi fordert europäisches Investitionsprogramm

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    Kurz vor Amtsantritt der neuen EU-Kommission legte deren Berater Mario Draghi einen Entwurf für die Stärkung des europäischen Wirtschaftsraums vor: Den EU-Staaten drohe, hinter die USA und China zurückzufallen. Um das zu verhindern, soll die EU jährlich 800 Milliarden Euro investieren. Die Frage der konkreten Finanzierung dürfte die Interessenwidersprüche vor allem zwischen Deutschland, Frankreich und Italien aufbrechen lassen.

    Die neue EU-Kommission ist noch nicht im Amt, da legt ihr wichtigster Berater bereits einen brisanten Programmentwurf vor. Mario Draghi war lange Jahre Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) und später italienischer Ministerpräsident. Sein Bericht dürfte die Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Führungsmächten der Union erheblich befördern.

    In dem Papier, das Draghi zusammen mit der alten und neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) vorlegte, beklagt er eine geringe Produktivität, mangelhafte Digitalisierung und eine große Investitionslücke bei der EU. Diese würde als Wirtschaftsraum hinter die USA und China zurückfallen, wenn sie nicht jährlich bis zu 800 Milliarden Euro zusätzlich in die Hand nähme.

    Draghi-Papier nennt drei Handlungsfelder

    Dringenden Handlungsbedarf formuliert Draghi dabei zu drei Punkten: Erstens habe Europa keine Führungsrolle bei neuen Technologien, sondern stecke in einer „statischen Industriestruktur“ fest: „Europa hat die durch das Internet ausgelöste digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst“, so Draghi.

    Zweitens seien die Energiepreise in der EU zu hoch. Die Strompreise etwa würden im Vergleich mit den USA das Zwei- bis Dreifache betragen und die Gaspreise das Vier- bis Fünffache. Draghi beklagte hier unter anderem, dass die „Marktstruktur“ in Europa verhindere, dass die niedrigeren Kosten für Strom aus Erneuerbaren Energien an Unternehmen und Haushalte weitergegeben werden. Auch der Ausbau der Erneuerbaren Energien und grenzüberschreitender Energienetze müsse schneller vorangetrieben werden.

    Drittens benötige die EU eine gemeinsame „Außenwirtschaftspolitik“, um ihre Abhängigkeit bei Rohstoffen und Computerchips zu verringern. Zudem sollten die EU-Staaten in Zukunft gemeinsam Waffensysteme beschaffen und damit die Rüstungsindustrie auf dem Kontinent konsolidieren — heißt: durch Firmenübernahmen und ihre Konzentration international wettbewerbsfähige europäische Rüstungsunternehmen schaffen.

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    Drohende Interessenwidersprüche

    Die Frage der Finanzierung der angemahnten Projekte dürfte noch für Konflikte zwischen den EU-Staaten sorgen: Investitionen in der geforderten Größenordnung würden etwa 5 Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) entsprechen. Wie diese Investitionen auf die Einzelstaaten verteilt werden, dürfte im gleichen Zuge verhandelt werden wie die Frage der Verwendung der Gelder. Denn Staaten mit einem hohen Anteil an den EU-Finanzen wie z.B. Deutschland werden darauf bedacht sein, dass das Geld möglichst nur in diejenigen Projekte fließt, die ihren eigenen geostrategischen Interessen entsprechen. Die Bundesrepublik bekennt sich zum Beispiel zwar in Worten zu einer europäischen Rüstungspolitik und entwickelt zusammen mit Frankreich und anderen Ländern gerade einen neuen Kampfjet und einen neuen Panzer. Bei der Luftabwehr geht Berlin jedoch einen eigenen Weg außerhalb der EU und lässt dabei vor allem Frankreich und Italien außen vor.

    Vor allem aber stößt Draghis Vorschlag zur Ausgabe europäischer Staatsanleihen („Euro-Bonds“) bereits jetzt auf Widerstand in Deutschland: Finanzminister Linder (FDP) erklärte: „mit einer gemeinsamen Schuldenaufnahme durch die EU lösen wir die strukturellen Probleme nicht“, während Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) seine Zustimmung zu Draghis Vorschlag aussprach. Und der deutsche Ökonom Daniel Stelter schrieb in einem Handelsblatt-Kommentar, dass das Konzept von Draghi „auf der Solidität Deutschlands“ basiere: „Unsere verbliebene Kreditwürdigkeit soll gemeinsame Schulden der EU garantieren, die deutschen Transfers den bereits hochverschuldeten Staaten helfen“.

    Grundkonflikt innerhalb der Eurozone

    Die Diskussion über europäische Staatsanleihen ist mindestens so alt wie der Euro als Gemeinschaftswährung. Grob zusammengefasst geht es darum, dass eine Reihe europäischer Staaten wie Deutschland, die Niederlande und die skandinavischen Länder eine vor allem auf Export orientierte Wirtschaftsstrategie verfolgen und zu diesem Zweck auf den Erhalt der Währungsstabilität durch niedrige Staatsschulden setzen. In Deutschland entsprach die Staatsverschuldung in 2023 zum Beispiel 64 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und in den Niederlanden 46,5 Prozent.

    Andere Staaten, darunter vor allem Frankreich und Italien, fahren dagegen historisch eine Wirtschaftsstrategie, die eher auf die kreditfinanzierte Erhöhung des Konsums im Inland abzielt und dafür eine höhere Verschuldung in Kauf nimmt. In Italien liegt diese im Vergleich zum BIP aktuell bei 137 Prozent, in Frankreich bei 110 Prozent.

    Die hohe Verschuldung dort ist heute aber auch auf die Flutung der europäischen Märkte mit Waren aus Nordeuropa seit Einführung des Euro zurückzuführen — sowie auf die Folgen der letzten Wirtschaftskrise und der Corona-Pandemie: So geschah es auch im Frühjahr 2020, dass Angela Merkel zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erstmals den Weg für europäische Staatsanleihen freimachte. Damals durfte die EU-Kommission Kredite in Höhe von 500 Milliarden Euro aufnehmen. Für diese haften alle EU-Staaten.

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    Der Konflikt zwischen den kapitalistischen „Gläubiger“- und „Schuldnerstaaten“ innerhalb der EU ging damit jedoch nur in eine neue Runde. In diesem Jahr kam der US-Analysedienst Rane zu der Einschätzung, dass „anhaltende Meinungsverschiedenheiten über die Emission gemeinsamer Schuldtitel und die Schaffung eines Einlagensicherungssystems für die Eurozone“ weiterhin „signifikante institutionelle Fortschritte verhindern und die Eurozone anfälliger für systemische wirtschaftliche und finanzielle Schocks machen“. Das ist offenbar der Schluss, zu dem auch Mario Draghi gekommen ist.

    Wie geht es weiter

    Damit kündigen sich die nächsten Verhandlungsmarathons auf europäischer Ebene bereits an. Ursula von der Leyen schlug sich schon auf Draghis Seite und dankte ihm für sein „perfektes Plädoyer“ für mehr Investitionen. Die erste Aufgabe sei es nun, mit den Mitgliedsstaaten gemeinsame europäische Projekte zu definieren. Über die Finanzierung müsse man sich danach Gedanken machen. Es gäbe jedoch zwei Wege: Entweder die Regierungen erhöhten ihre Beitragszahlungen oder die EU bekomme eigene Einnahmequellen: also doch Euro-Bonds.

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