Mit weit über 200 TeilnehmerInnen hat am Wochenende das NSU-Tribunal in Chemnitz und Zwickau stattgefunden. Die Veranstaltung folgt auf das erste NSU-Tribunal, das 2017 in Köln-Mülheim – einem der Tatorte, die dem NSU zugerechnet werden – stattfand.
Die TeilnehmerInnen kamen aus allen Regionen Deutschlands und zum Teil auch aus dem Ausland. Zusammen diskutierten Betroffene von rassistischer Gewalt: zahlreiche AntifaschistInnen, AktivistInnen verschiedenster Organisationen und auch AnwältInnen, die Leidtragende faschistischer Gewalt wie die NSU-Opfer vor Gericht vertraten.
Nach der Eröffnungsveranstaltung, die am Freitagabend bereits in einem überfüllten Saal stattfand, setzte sich das Programm am Samstag fort.
Am Samstag Vor- und Nachmittag teilten sich die zahlreichen TeilnehmerInnen auf diverse Workshops auf, um sich der Thematik Rassismus und rassistischer Gewalt von verschiedenen Seiten zu nähern. Zu den Themen gehörten Erfahrungsberichte von Betroffenen rassistischer Gewalt in Sachsen, Antisemitismus und Rassismus, sowie Berichte aus dem NSU-Prozess und Diskussionen über weitere Schritte, die zukünftig gegangen werden könnten, um das Andenken an die Opfer des NSU lebendig zu halten.
Betroffene tragen die Anklage zusammen
In der großen Abendveranstaltung am Samstag wurde in zahlreichen Redebeiträgen an die verschiedensten Leidtragenden faschistischer Gewalt in Deutschland erinnert. Einige der RednerInnen formulierten auch konkrete Forderungen.
Den ersten Beitrag hielt Renata, die in einem Selbstvertretungsverein der Sinti und Roma in Sachsen aktiv ist. Sie berichtete von ihrer Arbeit und den täglichen, verächtlichen verbalen Angriffen, mit denen sie und ihre KlientInnen bei der Polizei oder beim Arzt konfrontiert sind.
Ebenso wurde von zwei aufeinander folgenden Brandstiftungen in einem hauptsächlich von Roma bewohnten Haus berichtet, die beide zahlreiche Verletzte forderten und im zweiten Fall sogar zwei Todesopfer. Bis heute sind die Taten nicht aufgeklärt.
Die Rednerin forderte Entschädigungen für die Opfer rassistischer Gewalt und sichere Häuser.
„Solidarität ist unsere stärkste Waffe“
Ebenfalls anwesend waren VertreterInnen der Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş, der am 5. April 2016 in Berlin-Neukölln ermordet wurde. Viele Hinweise deuten auf einen organisierten faschistischen Mord im Stile des NSU hin. Auf Seiten der Ermittlungsbehörden gelten sie aber nach wie vor noch nicht mal als Verdacht.
Die Behauptung, dass die Ermittlungsbehörden aus dem NSU Prozess gelernt hätten, wird durch ihr Handeln widerlegt.“, so ein Sprecher der Initiative. Denn auch im Fall Bektaş wurde zunächst unterstellt, dass es sich um eine persönliche Fehde handeln müsse, in die der 22-Jährige verwickelt gewesen sei.
Der Sprecher weiter: „Wir sehen, dass die Nazis heute noch stärker auftreten. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet und noch tiefer im Staat verankert. Deswegen müssen wir unseren Kampf noch stärker vernetzen und noch energischer gegen rechte Gewalt, gegen Faschismus und Antisemitismus kämpfen. Solidarität ist unsere stärkste Waffe.“
Die Initiative fordert deshalb weiterhin die Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung des Mordes.
„Der Rassismus ist nicht weniger geworden.“
Es folgten zahlreiche Beiträge von den Angehörigen faschistischer Mordopfer. Vorgetragen wurde der Text von Ibraimo Alberto für seinen besten Freund Manuel Diogo, ebenso ein bewegender an Semra Ertan gerichteter Brief von ihrer Schwester. Semra Ertan hatte sich 1982 aus Protest gegen Rassismus in Deutschland in Hamburg selbst entzündet und ist so gestorben. An sie gerichtet sagte ihre Schwester: „Der Rassismus ist nicht weniger geworden. Aber heute sind wir eine starke Gemeinschaft geworden.“
Aynur Satır Akça, Überlebende eines Brandanschlags in Duisburg am 26. August 1984, formulierte ebenfalls: „Meine Seele hat bis heute nicht verarbeitet, was damals geschah. Schlimmer war noch, dass ich mich allein gelassen gefühlt habe, dass es nur einen Lehrer gab, der mich regelmäßig im Krankenhaus besuchte. Heute bin ich glücklich, dass man öffentlich über diesen Brandanschlag spricht und sich um Aufklärung bemüht. Der Staat ließ uns nie zu Wort kommen, der Staat hat nichts getan. Deswegen danke ich der Gedenk-Initiative von ganzem Herzen!“
Viele weitere Opfer kamen neben den hier Zitierten zu Wort und auffällig war dabei, dass die Aufmerksamkeit für einige Opfer faschistischer Morde erst Jahre später wächst und zum Teil auch, dass die Angehörigen Jahrzehnte benötigen, um sich selbst stark genug zu fühlen, mit ihrem Schicksal und dem, was ihnen widerfahren ist, an die Öffentlichkeit zu gehen.
„Wir bestimmen wie wir den NSU sehen“
Eine Anwältin der Nebenklage im Verfahren gegen die rechtsterroristische Organisation „Revolution Chemnitz“ meldete sich ebenfalls zu Wort und verurteilte scharf, dass in diesem Verfahren ebenso wie im NSU-Prozess die eigentlichen Opfer von der Staatsanwaltschaft und den Gerichten in die Rolle von unbedeutenden Statisten gezwungen werden. Ihren Beitrag beendete sie mit der kraftvollen Aussage: „Wie wir den NSU sehen, wie wir Revolution Chemnitz sehen, bestimmen nicht fünf Richter an einem Oberlandesgericht!“
Die ganze Diskussion war von diesem optimistischen Blick in die Zukunft geprägt. Zahlreiche RednerInnen bezeichneten gerade die gewachsene Solidarität als wertvolle Erfahrung, die ihre Vereinzelung durchbrochen und ihnen die Kraft verschafft habe, auch die schlimmsten Momente ihres Lebens zu durchstehen.
Polizei stört Gedenken mit Festnahme
Am Sonntag fuhr der Großteil der TeilnehmerInnen am Tribunal gemeinsam nach Zwickau, wo offenbar das bisher bekannte NSU-Kern-Trio über einen längeren Zeitraum lebte. Dort wurde von der Stadt ein Gedenkort für die Opfer des NSU eingeweiht.
Die TeilnehmerInnen des NSU-Tribunals kritisierten jedoch am Mikrofon der Veranstaltung, dass die Angehörigen und Opfer nicht eingeladen worden und auch nicht anwesend waren, ebenso, dass die Namen der Opfer zum Teil falsch geschrieben wurden.
Das aus ihrer Sicht unwürdige Gedenken holten die TeilnehmerInnen selbst nach, indem sie gemeinsam die Namen der Opfer riefen und eine Gedenkminute anschlossen. Nach der Veranstaltung versuchte die Polizei, eine der Teilnehmerinnen festzunehmen, der sie vorwarf, den Gedenkkranz der AfD beseitigt zu haben.
Ein Sprecher der Polizei beteuerte im Anschluss sein Bedauern darüber, dass selbst im Rahmen einer Gedenkveranstaltung solche Übergriffe stattfinden: „Warum das so ausgeartet ist, ist mir derzeit völlig unbekannt“.