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Zeitung für Solidarität und Widerstand

ArbeiterInnengruppe „Streik Belarus“: „Die Hauptaufgabe besteht darin, die ArbeiterInnenklasse zu organisieren.“

Schon seit einer Woche wird Belarus von Protesten gegen Präsident Alexander Lukaschenko und mutmaßlich manipulierte Präsidentschaftswahlen erschüttert. Offiziell stimmten mehr als 80% für den amtierenden Präsidenten. Doch die Opposition und die StraßenprotestlerInnen sind vom Gegenteil überzeugt. Immer mehr belarussische ArbeiterInnen treten in den Streik. Wir sprachen mit einem der Aktivisten der Gruppe „SabastowkaBY“ („Streik Belarus“), die neben politischen Parolen drängende soziale Probleme aufgreift, von denen die Erwerbstätigen in Belarus betroffen sind.

Kannst du zunächst kurz die Situation für die LeserInnen beschreiben, die der belarussischen Politik nicht sehr nahe stehen, warum es Proteste gibt und wie die Situation im Land an ihrem Vorabend war?

Der ursprüngliche Anlass für die Proteste war die Fälschung der Präsidentschaftswahlen in der Republik sowie die Ereignisse des Wahlkampfes.

Gründe dafür gibt es auch viele weitere: unter anderem die Wirtschaftslage, die Coronakrise, die Reaktion der Behörden auf COVID-19. [Anmerkung der Redaktion: Belarus gehört zu den Ländern, in denen keine Restriktionen verhängt wurden und die Regierung keine Unterstützung im Zusammenhang mit der Pandemie geleistet hat].

Vor der Wahl gab es Verhaftungen potenzieller KandidatInnen, die Rhetorik der „belagerten Festung“ von A. Lukaschenko und eine aktive Kampagne der Oppositionskräfte.

Den Anstoß zu den Protesten gab jedoch die beispiellos brutale Auflösung der friedlichen Demonstrationen am Abend und in der Nacht von Sonntag (9. August) auf Montag (10. August). Die Behörden setzten Terror ein, auch gegen gewöhnliche zufällige Menschen, die einfach spazieren waren oder von der Arbeit zurückgekehrt sind. Es gab Menschen, die gestorben sind. Dies führte zu einer Reaktion der Öffentlichkeit und der ArbeiterInnenbelegschaften.

Was passiert gerade in Belarus?

Zunächst einmal möchte ich eine Frage zur belarussischen Wirtschaft stellen. Im Gegensatz zu seinen Nachbarn wie Russland und der Ukraine hat Belarus die Vernichtung der sowjetischen Industrie unter dem Druck des globalen Marktes in viel stärkerem Maße vermieden. Welche Rolle spielt Deiner Meinung nach die noch bestehende Macht in Belarus in dieser Hinsicht? Auf welche Weise hat sich die herrschende Klasse im Land unter diesen Bedingungen gebildet?

Die Geschichte der herrschenden Klasse geht auf die Perestroika zurück [Anmerkung der Redaktion: Bei der „Perestroika“ handelt es sich um eine Öffnungspolitik in der Sowjetunion 1985-1991 hin zum kapitalistischen Weltmarkt]. Als die Führung der Union in Moskau eine Privatisierungspolitik begann, verstand die Führung des sowjetischen Belarus, dass damit auch die Privatisierung von Unternehmen gemeint war, die der Union untergeordnet waren, was zu einer tatsächlichen Übertragung aller Machthebel auf Russland führen würde.

Lukaschenko, der sich zunächst als Reformer und Befürworter marktwirtschaftlicher Reformen positionierte, änderte schnell seine Ansichten und nahm Mitte der 1990er Jahre die marktfeindliche Stimmung der Massen ein.

„Staatskapitalismus, kurz gesagt.“

Seine weitere Politik basierte auf dem Aufbau eines Systems von Holdings und Unternehmensverbänden, die zwischen den Interessen von ArbeitnehmerInnen und EigentümerInnen manövrierten. Staatskapitalismus, kurz gesagt.

So bildete sich ein großer staatlicher Sektor neben dem privaten Kapital, das sich in den letzten 30 Jahren ebenfalls vergrößert hat.

Dieser staatliche Sektor wird durch die Bürokratie gesteuert, die als Manager fungiert. In diesem Sinne ist die herrschende Klasse ein Haufen „EigenkapitalistInnen“ und Teil des Staatsapparats.

Dennoch hat sich Lukaschenko in den letzten zehn Jahren, nach der Krise 2008-2009, zu neoliberalen Reformen hin bewegt. Gemeinsam mit der „Weltbank“ und der „Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ wurden Vorprivatisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen durchgeführt. Der Anteil und die Rolle des russischen, europäischen und in geringerem Maße auch des chinesischen Kapitals ist groß.

Mit anderen Worten: Lukaschenko fungierte in den 1990er-2000er Jahren als Wegweiser für die Antiprivatisierungsstimmung der Menschen. Nun hat die Politik der Behörden sich jedoch geändert.

Lass uns zu den aktuellen Protesten zurückkehren. Wie ist die soziale Zusammensetzung der Protestierenden? Welche Forderungen werden gestellt?

Die  Kernforderungen sind: freie Wahlen, Beendigung der Gewalt, Freilassung der im Rahmen der Unterdrückung von Protesten Verhafteten, Prozess gegen die Verantwortlichen des Polizeiterrors.

Die Bewegung ist spontan, und bisher gab es keine klaren Führer, die andere Forderungen stellen.

„Man kann sagen, dass die Proteste ein Querschnitt der belarussischen Gesellschaft sind.“

Was die soziale Zusammensetzung betrifft, so ist es schwer das einzuschätzen. Es gibt keine unabhängige Soziologie in Belarus. Wenn die Protestierenden am Sonntag nach unserem subjektiven Empfinden überwiegend junge Menschen waren, so haben sich derzeit VertreterInnen aller Bevölkerungsschichten auf die eine oder andere Weise an den Aktionen beteiligt. Man kann sagen, dass die Proteste ein Querschnitt der belarussischen Gesellschaft sind.

Es sei darauf hingewiesen, dass die treibende Kraft schließlich Arbeitsbelegschaften wurden. A. Lukaschenko erinnert sich noch heute an die vielen tausend ArbeiterInnenproteste und Streiks, die ihm in den 1990er Jahren die Präsidentschaft ermöglichten. Deshalb haben die Behörden nach den ersten Nachrichten über die Unzufriedenheit in den Unternehmen die Terrorpolitik gestoppt.

Etwas später möchte ich ein wenig mehr über die Rolle der ArbeiterInnengruppen in der Bewegung sprechen. Lass uns zunächst die aktuellen Proteste in einem weiteren Sinne diskutieren. Vielleicht ist das wichtigste Symbol der Proteste heute die weiß-rot-weiße belarussische Fahne. Wie du weißt, wurde dieses Symbol zu verschiedenen Zeiten von belarussischen Nationalisten verwendet, darunter auch von Kollaborateuren, die während des Zweiten Weltkriegs auf der Seite des Dritten Reichs standen. Warum wird diese Fahne verwendet? Kann man sagen, dass sie die politische Komponente der Proteste in gewisser Weise charakterisiert?

Tatsächlich ruft die weiß-rot-weiße Fahne Assoziationen mit der kollaborierenden Bewegung und den modernen belarussischen Nationalisten hervor. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Symbolik ihren Inhalt verändern kann. Beispielsweise wurde diese Fahne ursprünglich von einem belarussischen Sozialrevolutionär entwickelt, der später im sowjetischen Belarus lebte und arbeitete.

Wir wollen sagen, dass die Fahne trotz ihrer Geschichte die politische Komponente von Protesten nicht charakterisiert. Im Moment ist sie zu einem gängigen Protestsymbol geworden. Der Grund dafür ist, dass die Fahne im Massenbewusstsein mit der Position „gegen Lukaschenko“ assoziiert wird, ebenso wie das ehemalige Wappen der Republik Belarus „Verfolgung“ symbolisiert.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Nationalisten nicht an den Protesten beteiligten. Wie wir aber bisher sehen, ist es ihnen noch nicht gelungen, ihre Agenda den breiten Massen aufzuzwingen.

Wie du bereits im Zusammenhang mit den Protesten festgestellt hast, setzen die Ordnungskräfte massiv Folter gegen DemonstrantInnen ein. Und nicht nur Protestierende, sondern auch zufällige Personen haben gelitten. Wie siehst du das?

Die Behörden haben eine neue Stufe der Gewalt in das Leben der BürgerInnen des Landes gebracht. Ihr Ausmaß ist in der neuesten Geschichte von Belarus beispiellos. Menschen werden unabhängig von Alter oder Geschlecht inhaftiert und gefoltert.

„Die Behörden haben eine neue Stufe der Gewalt in das Leben der BürgerInnen des Landes gebracht.“

Die brutale Niederschlagung von Protesten, das „Grabschen“, die Inhaftierung gewöhnlicher PassantInnen und Nachrichten über Folter haben tatsächlich dazu geführt, dass sich Arbeitskollektive großer Unternehmen den Protesten angeschlossen haben. Viele KollegInnen, die von der Arbeit zurückkehrten, wurden ohne jeden Grund festgenommen und verhaftet.

Was die ArbeiterInnenbewegung anbelangt, so gibt es jetzt viele Nachrichten, dass Unternehmensbelegschaften nacheinander in den Streik treten. Glaubst du, dass die ArbeiterInnenklasse in naher Zukunft zu einem entscheidenden Faktor im politischen Leben in Belarus werden kann? Ist es möglich, dass eine politische Kraft sich bildet, die auch nach den aktuellen Protesten längerfristig die Interessen der ArbeiterInnen zum Ausdruck bringt?

Es ist schwer, im Moment eine Vorhersage zu treffen. Das Land ist in der Schwebe. Wir können mit Sicherheit sagen, dass die ArbeiterInnen als ein Faktor wirkten, auf den weder das Regime noch die alte Opposition gehofft hatten. Wir sehen auch, wie allmählich, langsam wirtschaftliche Forderungen auf die Tagesordnung der ArbeiterInnen gesetzt werden.

Wenn die ArbeiterInnen in der Lage sind, sich zu organisieren, ihre Position in einem modernen kapitalistischem Belarus einzusehen und zu lernen, ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen, wird es der ArbeiterInnenklasse möglich sein, sich selbst als ein Subjekt der Politik zu verwirklichen.

Es ist möglich, eine Parallele zu den späten Jahren der Perestroika zu ziehen. Zu dieser Zeit wurden die ArbeiterInnen massiv politisiert, hatten aber keine klaren politischen Ziele, folgten der Parteibürokratie, die später das Land ruinierte und die Industrie privatisierte. In Belarus dauerte dieser Prozess viele Jahrzehnte. Und die Tatsache, dass die Beschäftigten unter fast ausschließlich situationsbedingten politischen Forderungen nach Freiheit und Rücktritt des Präsidenten in Streiks verwickelt waren, zeigt, dass die aktuelle Situation im gewissen Sinne ähnlich ist.

Wir hoffen, dass die linken AktivistInnen die ArbeiterInnen unterstützen werden.

Aber wiederholen wir es noch einmal: Unter den Bedingungen der Ungewissheit ist es so, dass wir zwar an ein positives Szenario für die ArbeiterInnenklasse glauben wollen, aber es ist unmöglich, eindeutig zu sagen, was als Nächstes passieren wird.

Mit der alten Opposition meinst du wahrscheinlich jene Kräfte, die in gewisser Weise eine neoliberale Agenda für Belarus anbieten. Wie groß ist das Risiko, dass diese Kräfte an die Macht kommen und versuchen werden, die Industrie zu privatisieren und die sozialen Garantien einzuschränken?

Ja, wir meinen die Parteien und Organisationen, die in den letzten 20 Jahren in Opposition zum bestehenden Regime gestanden haben. Gegen Ende des vorigen Jahrzehnts hatten sie den größten Teil der verfügbaren Unterstützung, ihre AktivistInnen und Ressourcen verloren. In vielerlei Hinsicht waren diese politischen Strukturen gefangen: Ihre täglichen Aktivitäten hingen von externen Finanzierungen, Zuschüssen, internationalen Projekten ab, und die Notwendigkeit, solche Mittel zu erhalten und ohne breite Unterstützung „von unten“, diskreditierte sie in den Augen der Öffentlichkeit.

Wir schließen nicht aus, dass die rechten Kräfte, die für eine beschleunigte Version der neoliberalen Reformen im Vergleich zu den gegenwärtigen Behörden eintreten, an die Macht kommen könnten. Umso wichtiger ist es deshalb, eine ArbeiterInnenbewegung zu organisieren, um sich ihr entgegenstellen zu können. Doch unabhängig davon, ob Lukaschenko oder jemand anders an der Macht ist, muss sich die ArbeiterInnenklasse auf den Kampf vorbereiten.

Zum Schluss erzähl uns bitte von deiner Gruppe SabastowkaBY. Wie habt ihr euch organisiert, und was seht ihr als eure Aufgaben an?

In den letzten Jahren ist im Land eine neue Generation linker AktivistInnen herangewachsen.

Wie wir bereits erwähnt haben, wenn auch langsam, setzt das gegenwärtige Regime die neoliberalen Reformen um. Diese Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage sowie die neue Popularität linker Ideen, der Klassentheorie, des Marxismus, hat viele einfache BürgerInnen zu einer für Belarus untypischen Politisierung veranlasst: nicht durch die bestehenden rechten Parteien, sondern durch Initiativen der Linken.

Das Vorgehen der Behörden – grausame Niederhaltung von Protestaktionen, Folter, Druck auf die ArbeiterInnenkollektive im Zusammenhang mit Streiks – wurde für diese Menschen zu einem Zeichen des Handlungsbedarfs.

„Die Hauptaufgabe besteht darin, die ArbeiterInnenklasse zu organisieren.“

AktivistInnen begannen zusammen mit ArbeiterInnen, die sich bereits der Notwendigkeit bewusst waren, sich zu organisieren und für ihre Rechte und Interessen zu kämpfen, Informationen zu verbreiten und die entstehende ArbeiterInnenbewegung zu koordinieren.

Die Hauptaufgabe besteht darin, die ArbeiterInnenklasse zu organisieren. Wir wollen nicht, dass die ArbeiterInnenklasse von den Eliten in ihrem politischen Kampf benutzt wird. Dies erfordert in erster Linie unabhängige Gewerkschaften unter der Kontrolle der ArbeiterInnen.

Die ArbeiterInnen müssen sich organisieren und unabhängiges politisches Subjekt werden. Nur dann wird Belarus ein wirklich freies Land werden.

Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, so einen interessanten und umfassenden Kommentar zur aktuellen Situation abzugeben. Wir wünschen euch viel Erfolg in eurem Kampf für ein neues soziales und fortschrittliches Belarus!

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