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Freitag, April 26, 2024
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    Bergkarabach: Ein Friedensvertrag, der keinen Frieden bringt

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    In der vergangenen Nacht haben sich die Ereignisse im Krieg rund um die Republik Artsakh und das Gebiet Bergkarabach zugespitzt. Russland hat Armenien dabei zu der Unterzeichnung eines Friedensvertrags gedrängt, der den Sieg Aserbaidschans festschreibt. – Ein Kommentar von Emanuel Checkerdemian

    Parallel zu den Ereignissen in Armenien und der Republik Artsakh ist der islamistische Terror mit dem widerwärtigen Mord an Samuel Paty und weiteren Anschlägen in Frankreich und in Wien wieder in das Bewusstsein der europäischen Gesellschaften gezwungen worden. Nachdem Corona, US-Wahlen und Co. die Nachrichtenlage der vergangenen Monate im Westen bestimmten, lässt sich das Problem nun nicht mehr beiseite schieben.

    Der Ignoranz gegenüber den – von der Türkei organisierten islamistischen und nationalistischen – Vernichtungskriegen tut dies jedoch kein Abbruch. Genau Deutschland lässt sich durch die Konflikte im Kaukasus in seinen diplomatisch-freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei nicht beirren.

    „Wer Shushi kontrolliert, kontrolliert Artsakh“

    Es sind dramatische Bilder und Informationen, die man derzeit aus der Republik Artsakh (auch: Arzach) – dem sogenannten Bergkarabach-Gebiet – bekommt: Knapp 100.000 Menschen befinden sich auf der Flucht, zumeist in Richtung armenisches Staatsgebiet. Das sind 2/3 der dortigen Bevölkerung. Währenddessen sind die aserbaidschanischen Truppen – unterstützt von den islamistischen Schergen, die von der Türkei aus Syrien hinzugezogen wurden – auf dem Weg in die strategisch bedeutende Stadt Shushi (auch: Şuşa, Schuschi, Schuscha). Sie liegt erhöht und bietet somit die Möglichkeit, von dort aus noch heftigere Angriffe auf die Hauptstadt Stepanakert – die Hauptstadt der international nicht anerkannten Republik Artsakh – zu tätigen.

    Dabei ist die hiesige Informationslage schwer zu bewerten. So beansprucht die aserbaidschanische Seite am Montag die Einnahme der Stadt, während Armenien weiter von schweren Gefechten berichtet.

    Sicher ist indes jedoch Eines: Sollte Shushi fallen, hätte dies fatale Folgen für die Armenier:innen der Region. Und das nicht nur aus militärstrategischer Sicht: Denn von hier aus führt der einzige Fluchtweg, die einzige Straße, nach Armenien. Schon jetzt steht diese unter schwerem Beschuss – eine Flucht wäre also ein großes Wagnis. Dennoch sehen die Meisten diesen Weg als einzige Chance, dem sicheren Tod zu entgehen.

    Die türkisch-aserbaidschanische Koalition, zusammen mit ihren islamistischen Söldnern, lässt weder in der Rhetorik, noch in der Tat Zweifel daran aufkommen, was sie mit den Armenier:innen zu tun gedenkt: Den Aufrufen Erdogans, „das Werk der Großväter“ zu beenden, wie auch den Forderungen nach Vernichtung der „armenischen Rasse“ von Ilham Aliyev, dem Präsidenten der Republik Aserbaidschan, folgen die willfährigen Handlanger des türkischen Faschismus nur allzu gerne. Schändungen von armenischen Grab- und Gedenkstätten, der Einsatz von Phosphor-Munition, Artilleriefeuer auf Zivilist:innen oder die Folter und Enthauptungen von Kriegsgefangenen – all das ist von verschiedenen NGO’s und Kriegsbeobachtungsstellen längst verifiziert worden. Die aserbaidschanische Seite vollführt nicht einfach „nur“ Kriegsverbrechen, ihre ganze Kriegsführung ist ein einziges Verbrechen!

    Die Welt lässt die Armenier:innen verrecken

    Eigentlich müsste es an dieser Stelle weitergehen mit der langen Tradition deutsch-türkischer Verbrechen. Es sollte darum gehen, dass die Deutschen 1915 am Völkermord an den Armenier:innen beteiligt waren, dass sie 1937 das Giftgas lieferten, mit dem die Kurd:innen von Dersim ermordet wurden… Doch während dieser Text verfasst wird, hat sich alles an diesem Krieg verändert:

    Gerade verkündete der Präsident Armeniens, Nikol Pashinyan, via Facebook, dass er (auf Druck Russlands) ein Friedensabkommen unterzeichnet habe. Das kommt einer Kapitulation gleich! Circa die Hälfte des Bergkarabach-Gebiets muss nun an Aserbaidschan abgegeben werden. Russland behauptet, im Gegenzug die einzige Straße vom letzten Rest der Republik Artsakh nach Armenien schützen zu wollen. Jedoch werden sich alle armenischen Kräfte aus Bergkarabach zurückziehen müssen. Des Weiteren sollen türkische „Friedenstruppen“ – welch eine Verhöhnung diese Bezeichnung ist – in der Region stationiert werden.

    Armenien wird außerdem dazu verpflichtet, eine direkte Autobahnverbindung durch armenisches Staatsgebiet – also nicht durch Bergkarabach – zwischen der Türkei und Aserbaidschan zu gewährleisten. Man mag – etwas zynisch – zu dem Schluss kommen, dass die einzige unerfüllte Forderung des türkischen Faschismus’ ist, dass die Armenier:innen nicht auch noch ihren eigenen Völkermord bewerkstelligen müssen.

    Das Versagen der „internationalen Gemeinschaft“

    Sollte sich dieser wahnwitzige „Deal“ als wahr erweisen – von einigen Stellen wird er immer noch dementiert (alles deutet jedoch darauf hin) – beweist sich wieder einmal, dass die Kapitalinteressen des Westens, aber auch Russlands noch jede ethnische Säuberung, jeden Vernichtungskrieg und jeden Völkermord „rechtfertigen“.

    „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges auf unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“, sagte noch Reichskanzler Bethmann-Hollweg im Zusammenhang mit den türkischen Gräuel von 1915. Ganz ähnlich dürfte auch der heutige Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Heiko Maas, gedacht haben. Denn die Aufrechterhaltung von menschenverachtenden „Flüchtlingsdeals“, um Menschen wie Tiere, aber wenigstens außerhalb Europas zu halten, der florierende Waffenhandel oder die Rohöllieferungen Aserbaidschans an Deutschland wirken schwerer als das „Deutsche Gewissen“. Und auch andere Staaten, allen voran das sich zur „Schutzmacht“ aufspielende Russland, haben sich den eigenen Kapitalinteressen und somit auch dem türkischen Faschismus gebeugt. Ein kurdisches Sprichwort besagt, dass die Kurd:innen „keine Freunde außer den Bergen“ haben. Gleiches gilt wohl auch für die Armenier:innen.

    Unterdessen soll es unmittelbar nach der Bekanntgabe des „Friedensabkommens“ zu schweren Ausschreitungen in der armenischen Hauptstadt Yerevan gekommen sein. Empörte Demonstrant:innen greifen Regierungsgebäude und das Parlament an. Verschiedenen Berichten zufolge wurde auch der Präsident des Parlaments, Ararat Mirzoyan, von wütenden Demonstrant:innen angegriffen und schwer verletzt.

    Es ist nicht vorauszusehen, wie sich die nächsten Stunden, Tage und Wochen entwickeln werden, ob ein Bürgerkrieg auf diese Niederlage folgt, ob Nikol Pashinyan als ehemaliger Premierminister und Oppositioneller überhaupt noch im Land ist oder ob er gestürzt wird. Das totale Chaos hat Armenien erreicht – derweil  westliche und russische Diplomat:innen mit den Islamisten auf den „Frieden“ anstoßen.

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