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Freitag, April 19, 2024
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    “Selbst eine große Protestbewegung halte ich für denkbar!”

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    In Russland sprechen sich eine Reihe linker Organisationen gegen den imperialistischen Krieg in der Ukraine aus. Eine von ihnen ist die trotzkistische Organisation “Revolutionäre Arbeiterpartei” (RAP). Weil Informationen abseits der großen Medien sowohl aus Russland, als auch aus der Ukraine und den NATO-Staaten wichtig für ein umfassendes Bild der Lage sind, veröffentlichen wir hier ein Interview mit der Aktivistin Galina aus dieser Organisation.

    Könntest du dich kurz zum Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der Ukraine äußern? Wie schätzt du die Lage ein?

    In den letzten Monaten war uns zunächst sehr unklar, ob Putin nur bluffen würde.
    Selbst nachdem der russischen Staatsduma ein Vorschlag unterbreitet wurde, die Souveränität der “Volksrepubliken Lugansk/Luhansk und Donezk” (VLRD) anzuerkennen, war uns nicht klar, ob Putin dies tun würde.

    Zwar wirkte ein Krieg in den letzten Tagen immer wahrscheinlicher. Viele von uns hatten aber damit gerechnet, dass sich dieser zunächst auf die Ostteile der Ukraine beschränken würde und es der russischen Regierung darum ging, die VLRD gegen ukrainische Angriffe zu sichern. Es ist jetzt aber offensichtlich geworden, dass Putin nicht das Ziel verfolgt, die europäisch orientierten Kräfte durch einen langen Konflikt zu zermürben, um einen Staatsstreich der prorussischen Kräfte zu ermöglichen, sondern diesen auf direktem Weg erzwingen will. Die politische Basis für ein solches neues Regime könnte unter anderem in der Partei “Oppositionsplattform – Für das Leben” bestehen.

    Es gibt nun zwei Möglichkeiten:
    Erstens: Im Verlauf des 26. Februars wird ein kurzer Krieg mit der Kapitulation der Ukraine beendet, und Moskau wird gegebenenfalls das von ihm gewünschte Regime in Kiew einsetzen.
    Oder zweitens: Die russische Armee wird an den bereits besetzten Linien (Zufahrten nach Charkiw, Kiew, Mariupol) stehen bleiben, und der Krieg wird sich zu einem langen Stellungskrieg entwickeln.
    Ich glaube, dass die erste Option wahrscheinlicher ist, aber wir werden sehen.

    In jedem Fall ist dies nur ein kurzfristiger Gewinn für Moskau. Denn ein solcher “Staatsstreich” wird zum politischen Bankrott der prorussischen Kräfte in der Ukraine und zum Aufstieg revanchistischer und nationalistischer Strömungen führen, die wiederum, unterstützt von der EU und den USA, in naher Zukunft einen neuen Maidan auslösen werden. Das ganze Spiel wird von vorne losgehen.

    Das verheißt nichts Gutes für die linke Bewegung. Vor allem in der Ukraine. Nur im Donbass könnten sich die Möglichkeiten für fortschrittliche Kräfte zu agieren etwas verbessern. Denn eine vorübergehende Deeskalation der militärischen Spannungen beziehungsweise ein verschobener Schwerpunkt des Krieges könnte dazu führen, dass die Regime dort etwas weniger repressiv agieren.

    Ein langfristiger Stellungskrieg würde jedoch auch Russland (wenn auch viel weniger als die Ukraine) zermürben und zu einer Zunahme der gesellschaftlichen Spannungen und der Unzufriedenheit mit den Behörden führen.
    In jedem Fall werden wir unter sehr dynamischen Bedingungen arbeiten müssen, wie auch immer diese aussehen mögen.

    Ist eine direkte Konfrontation zwischen russischen Truppen und der NATO wahrscheinlich?

    Ich glaube nicht, und zwar aus drei Gründen:
    1. Die USA haben ausdrücklich erklärt, dass es “kein Szenario gibt, in dem die NATO in einen Krieg mit Russland ziehen würde” und die NATO kämpft nur, wenn die USA es wollen.
    2. Entgegen der Medienhysterie ist ein Konflikt zwischen Russland und den baltischen Staaten oder zwischen Russland und Polen in Form eines heißen Krieges derzeit unmöglich, weil es dafür keine einzige Bedingung gibt. Nur einen Kampf um Einfluss auf dem Territorium der Ukraine mit Polen halte ich für möglich: Dies würde die Teilung der Ukraine in einen “Westteil” unter dem Einfluss Polens und einen “Osten” unter dem Einfluss Russlands bedeuten. Aber das Szenario selbst ist unwahrscheinlich.
    3. Ein direkter heißer Konflikt zwischen der NATO und Russland könnte nur allzu leicht zu einem nuklearen Konflikt eskalieren. Und das will niemand. Die Kapitalisten auf der Welt mögen ein Interesse an einem Konflikt haben, um Krisenprobleme in Wirtschaft und Politik zu lösen, aber augenblicklich sicherlich nicht an einem Atomkrieg.

    Ein weiteres Problem für Russland besteht darin, dass es, wenn sich der Krieg mit der Ukraine in die Länge ziehen sollte, zugleich in eine Reihe anderer regionaler Konflikte wie in Bergkarabach, Afghanistan und Kasachstan hineingezogen werden könnte. Denn die Proteste dort reißen nicht ab, aber die Türkei plant, beim nächsten Mal vor der OKVS (Red.: ein von Russland geführtes Militärbündnis; im Januar 2022 beteiligte es sich an der Niederschlagung des Aufstandes in Kasachstan) dorthin zu gelangen.
    Andere lokale Konflikte in der ganzen Welt könnten auf ähnliche Weise aufflammen (Taiwan/China, Iran/Saudi-Arabien usw.).

    Die wichtigste Frage ist natürlich: Wie ist die Stimmung unter den Arbeiter:innen? Wie wird sich der Krieg auf die Haltung der Bevölkerung gegenüber der Regierung in Russland auswirken?

    Die meisten Arbeiter:innen sind lebhaft am Krieg interessiert. Beim Verteilen von Flugblättern vor Betrieben werden wir gefragt, ob wir für Putin oder für “die Ukrainer” sind.
    Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Dreiviertel von ihnen einfach nur neugierig sind und ein gewisses Gefühl des Stolzes auf die Armee haben (ähnlich wie Fans auf ihre Mannschaft) – mehr aber auch nicht. Wir sind noch lange nicht im Jahr 2014, und es gibt keinen massenhaften Aufschwung vom Hurra-Patriotismus in der Gesellschaft. Selbst diejenigen, die “für den Donbass jubeln”, bringen ihn nicht mit Putin in Verbindung. Seine Autorität wächst hierdurch bisher nicht. Angesichts der Reden in der Staatsduma wie “das Volk der Russischen Föderation würde sein 13. Gehalt für den Donbass opfern” sagen diejenigen, die gestern noch gesagt haben “Wir müssen bis nach Kiew gehen!”, heute oft “Was soll das alles – ich habe nicht die Absicht, dafür zu bezahlen”.

    Die bewusstesten und am besten organisierten Arbeiter:innen lehnen den Krieg aus antiimperialistischen und internationalistischen Motiven ohnehin direkt ab, wie zum Beispiel die Gewerkschaft “Einheit” bei der Lada-Fabrik. Die Masse der einfachen Leute interessiert sich mehr für den fallenden Rubel, den möglichen Anstieg der Preise in den Geschäften wegen der Sanktionen, die möglichen Engpässe usw. als für den Krieg selbst.

    Das Regime in Russland wird weiterhin repressiv auf Proteste reagieren, aber nicht sofort und nicht in aller Schärfe. Im Gegenteil: Jetzt, wo die Fahne des “Antifaschismus” geschwenkt wird, könnte Putins Regime in gewisser Weise etwas milder werden. Im Gegensatz zu den Horrormeldungen der Medien sind die Festnahmen am 24. Februar auf dem Moskauer Puschkin-Platz beispielsweise im Vergleich zu Solidaritätsaktionen für Nawalny sehr glimpflich verlaufen. Die Polizei nahm weniger als hundert Menschen fest, das ist für die hiesigen Verhältnisse nicht sonderlich viel.

    Darüber hinaus werden zwar die Aktivist:innen bei einzelnen Anti-Kriegs-Mahnwachen fast sofort verhaftet, aber oft wird noch nicht mal ein Protokoll darüber erstellt und es werden keine hohen Geldstrafen verhängt. Vor einem halben Jahr und sogar im Januar war das noch anders.

    Ein “schneller russischer Sieg” im Krieg wird also vermutlich so gut wie keine Auswirkungen auf die russischen Arbeiter:innen und ihre Ansichten haben. Dies würde vielmehr für die Regierung zu einem Vorwand werden, in den Donbass zu investieren und dafür die Arbeiter:innen über Steuergelder zur Kasse zu bitten. Ein gewisses Protestpotential sehen wir selbst in diesem Fall aber schon.

    Aber ein langwieriger Krieg, der als Vorwand verwendet wird, um den Arbeiter:innen mit steigenden Preisen und sinkenden Löhnen noch tiefer in die Taschen zu greifen, kann eine beschleunigende Wirkung auf die bereits stattfindende Politisierung der Massen und die Politisierung der Arbeiter:innen haben. Selbst eine große Protestbewegung halte ich in der Zukunft für denkbar.

    Bemerkenswert sind auch die Vorgänge innerhalb der KPRF (Red.: Kommunistische Partei der Russischen Föderation; eine der offiziellen Parlamentsparteien), in der die bürokratische Elite die Politik des Kremls rechtfertigt und unterstützt, während die einfachen Massen und ein Teil der unteren Funktionäre “aus dem Volk” den Kreml und den Krieg scharf verurteilen. Dieser Konflikt könnte sogar zu einer Spaltung der Partei führen. Auf jeden Fall hat ein bedeutender Teil der KPRF inzwischen den politischen Charakter der Parteiführung erkannt und stellt sie infrage.

    Wie schätzt du die Stimmung in den “Volksrepubliken von Donezk und Lugansk'” ein?

    Die Stimmung unter den Arbeiter:innen ist gemischt. Die Mehrheit befürwortet diesen Krieg nach wie vor, denn sie erhoffen sich von einem russischen Sieg, dass Frieden in ihrer Region einkehrt. Darüber hinaus hofft die Bevölkerung, dass die Anerkennung der Souveränität der VRDL oder sogar die Eingliederung in den russischen Staat zumindest zu einer Verbesserung des materiellen Standards der Bevölkerung durch Ankurbelung der Wirtschaft beitragen würde.

    Die Hoffnung ist auch deshalb teilweise berechtigt, weil sich nun für die lokalen Unternehmen die Möglichkeit bietet, sich von den „Zwischenhändlern“ zu befreien und direkt mit Russland zu handeln. Möglicherweise könnte es unter diesen Umständen sogar den Arbeiter:innen gelingen, entsprechende Lohnerhöhungen zu erkämpfen. Dafür gibt es jetzt vielleicht Möglichkeiten, denn die Fahne des “Antifaschismus” zu schwenken ist für Putin jetzt wichtig, aber sie kann auch gegen ihn gerichtet werden. Unsere Taktik in den sogenannten Volksrepubliken sieht zum Beispiel vor – durch die Berichterstattung aller Aktionen des Arbeiter:innenkampfes – zu erzwingen, dass wenigstens so viele gewerkschaftliche Freiheiten wie in Russland gewährt werden. Außerdem werden wir die wahren Ursachen des aktuellen Konflikts und den imperialistischen Charakter des Kriegs offen legen.

    Es ist jedoch falsch anzunehmen, dass jeder in den VRDL bereit ist zu kämpfen. So hat zum Beispiel die Massenmobilisierung, die kürzlich dort stattfand, einen Sturm der Entrüstung in der Bevölkerung ausgelöst. Die Menschen in den VRDL begrüßen den Krieg zum Großteil soweit er von der russischen Armee geführt wird, aber die meisten von ihnen sind nicht bereit, selbst zu kämpfen. Und selbst diejenigen, die den Krieg in seiner jetzigen Form nachdrücklich unterstützen, sind nicht bereit, den Regierungen der VRD (Red.: Donezk) und der VRL (Red.: Lugansk/Luhansk) die jüngste Mobilisierung zu verzeihen, bei der alle Männer wahllos auf der Straße aufgegriffen und zu Rekrutierungsstationen geschleppt wurden. Somit ist die Autorität der lokalen Behörden in der VRDL gleich Null, die Menschen haben nur Angst vor ihnen, aber nicht mehr. Und nun werden sie sich weniger davor fürchten, da sie auf die Unterstützung Russlands gegen die eigenen Machthaber zählen – das ist aber natürlich naiv.

    Darüber hinaus gibt es auch unter den Arbeiter:Innen in der VRDL Menschen, die sich der Art und des Charakters dieses Kriegs unmittelbar bewusst sind und ihn nicht unterstützen. Sie sind eine Minderheit, aber die am besten organisierte. Sie sind in Streikkomitees organisiert, weil die Arbeit in normalen Gewerkschaften schlicht unmöglich ist. Zum Teil gehören sie auch der Kommunistischen Partei der VRD und der Kommunistischen Partei der VRL an (so seltsam das auch klingen mag). Wir glauben, dass in diesen Kreisen heute die wichtigsten Potentiale für die Organisierung eines selbstständigen Arbeiter:innenkampfes zu finden sind.

    Andererseits sind die Menschen, die für einen Anschluss an die Ukraine sind, in der Region eine absolute Minderheit. Das liegt nicht nur daran, dass solche Ansichten scharf und repressiv verfolgt werden. Der ständige Artilleriebeschuss aus der Ukraine in den letzten acht Jahren hat ganz einfach in hohem Maße dazu beigetragen, dass die negativen Einstellungen gegenüber der Ukraine gewachsen sind.

    Hast du einen Eindruck von der Stimmung unter der ukrainischen Arbeiter:innenklasse?

    Über dieses Thema weiß ich am wenigsten. Mein oberflächlicher Eindruck ist jedoch, dass die Mehrheit der Ukrainer:innen den Angriff natürlich ablehnt. Es sind jedoch auch hier nicht alle Teile der Bevölkerung bereit, aktiv und bewaffnet Widerstand zu leisten, denn viele sind auch von der ukrainischen Regierung enttäuscht.

    Nicht so sehr wegen ihres Nationalismus, sondern wegen ihrer völligen Unfähigkeit, die Wirtschaft zu regulieren, die in der aktuellen Krise endgültig zusammengebrochen ist. Fabrikschließungen, erschreckende Arbeitslosigkeit, Lohnrückstände von sechs Monaten und mehr, und das alles bei einer enorm hohen Inflation – das ist die Realität in der heutigen Ukraine. Die Bereitschaft, den “Status Quo” zu verteidigen, ist hierdurch jedenfalls gehemmt.

    Es liegt auf der Hand, dass es in Russland und insbesondere in der VRDL auch Probleme mit der Wirtschaft gibt. Aber Russland steht in dieser Hinsicht viel besser da, weil das Land stark von den Energieressourcen profitiert. Die Menschen im Donbass hingegen sind daran gewöhnt, ihre Notlage gerade mit dem Krieg gegen die Ukraine und mit der Tatsache, dass die VRDL international nicht anerkannt sind, zu erklären.

    In ihrer jüngsten Erklärung ruft die Revolutionäre Arbeiterpartei zur Bildung einer Antikriegsbewegung auf. Wie sind die Aussichten für die Schaffung einer solchen Struktur? Sind sich die linken und Arbeiter:Innen-Organisationen in Russland in der Frage des Kriegs einig?

    Es gibt leider keine politische Einheit in dieser Frage. Die Aussicht auf ein Bündnis gegen den Krieg sehe ich vor allem in einem Bündnis mit den Teilen der KPRF, die gegen den Krieg sind. Wir haben bereits Gespräche begonnen.

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